30 Jahre Dayton: Ein Land auf der Suche nach sich selbst
Am 14. Dezember jährt sich das Ende des Bosnienkrieges zum 30. Mal. Wie seine Folgen heute sowohl vor Ort als auch in der Diaspora wahrgenommen werden, behandeln zwei Forscherinnen der Universität Basel.
04. Dezember 2025 | Jonas Frey
Der Applaus fiel verhalten aus, als die Präsidenten der Republik Bosnien und Herzegowina, der Republik Serbien und der Republik Kroatien am 14. Dezember 1995 im Elysée-Palast in Paris das Abkommen von Dayton unterzeichneten. Unter Vermittlung der USA und der Europäischen Union einigten sich die Parteien auf ein sofortiges Ende des 1992 ausgebrochenen Bosnienkrieges. «Das mag kein gerechter Frieden sein, aber er ist gerechter als die Fortsetzung des Krieges», sagte der erste Präsident der Republik Bosnien und Herzegowina Alija Izetbegović anlässlich der Unterzeichnung.
Mit 100'000 Toten, dem Völkermord von Srebrenica und anderen von internationalen Gerichten festgestellten Kriegsverbrechen war der Bosnienkrieg der blutigste Konflikt im Zerfallsprozess des Sozialistischen Jugoslawiens zwischen 1991 und 2001.
Das Abkommen von Dayton teilte das Gebiet der ehemaligen Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina in zwei Entitäten auf: in die mehrheitlich von Bosniakinnen und Bosniaken – also bosnischen Musliminnen und Muslimen – und Kroatinnen und Kroaten bewohnte Föderation Bosnien und Herzegowina und die Republika Srpska, wo grösstenteils bosnische Serbinnen und Serben leben.
Kriegsende ohne echten Frieden
Das politische System ist seit 1995 in einer komplexen Struktur organisiert, die ursprünglich einen Ausgleich zwischen den drei Gruppen schaffen sollte. Seither schweigen die Waffen. Doch der Ausgleich gestaltet sich vor allem bei der Besetzung hoher politischer Ämter schwierig. «Und die historischen Narrative aller drei Bevölkerungsgruppen unterscheiden sich stark. In den letzten 30 Jahren fand keine Annäherung statt», sagt Ljiljana Reinkowski. Die Dozentin für Südslawistik und Südosteuropakunde forscht und lehrt im Fachbereich Slavistik der Universität Basel. «Seit 30 Jahren steckt das Land in einem ethnisch-nationalistischen Korsett.» Das Abkommen von Dayton habe zwar den Krieg eingefroren, «aber es verhindert, dass eine überethnische bosnische Identität entstehen konnte, die im Interesse des ganzen Landes steht». Reinkowski erwähnt auch das Problem der von aussen herbeigeführten Spannungen. Politische Interventionen aus Kroatien und Serbien verstärkten die Polarisierung im Land.
Dass nach «Dayton» in den höheren politischen Posten keine Person sitzen könne, die nicht bosniakisch, serbisch oder kroatisch ist, fördere zusätzlich den Nationalismus. «Die geteilte Erinnerung an den Krieg ist eine Folge des seit Dayton ethnisch organisierten politischen Systems. Aber auch in den anderen Ländern des postjugoslawischen Raums findet keine Aufarbeitung der Geschehnisse statt», sagt Reinkowski. «Jede Gruppe inszeniert sich stattdessen als Opfer.» Am deutlichsten wird dies in der Republika Srpska, wo die Leugnung des Völkermords von Srebrenica und anderen Kriegsverbrechen an der Tagesordnung steht – sowohl auf höchster politischer Ebene als auch in weiten Teilen der Bevölkerung.
Opfermythen und die Leugnung von Kriegsverbrechen
Die Selbstdarstellung als Opfer wird auch in konkreten Erinnerungsprojekten in der Republika Srpska sichtbar. Mit solchen setzt sich die Kunsthistorikerin der Universität Basel Hella Wiedmer-Newman in ihrer Dissertation auseinander. Ein aktuelles Beispiel: die Instandsetzung eines Denkmals für im Krieg gefallene Soldaten der Armee der Republika Srpska in Banja Luka. «Das Denkmal sieht sehr ähnlich aus wie der Garten des Exils im Jüdischen Museum in Berlin», sagt Wiedmer-Newman. «Die Republika Srpska nimmt die Ästhetik von Holocaust-Denkmälern auf, um Serben mit den ultimativen Opfern der Geschichte gleichzusetzen.»
Welche historischen Narrative in neueren Erinnerungsprojekten gezeigt werden und ob dabei Geschichtsrevisionismus stattfindet – diese Fragen stellt Wiedmer-Newman in der Analyse ihrer Fallbeispiele. Dabei untersucht sie die starke Rolle der UNO in Bosnien und Herzegowina. Seit 1995 überwacht diese durch das Amt des Hohen Vertreters (OHR) die Einhaltung des Dayton-Vertrages. «Viele der NGOs und Stiftungen in der Region leisten hervorragende Arbeit und stellen interessante Projekte auf die Beine», sagt Wiedmer-Newman.
Kunst als Instrument der Versöhnung?
Doch die Praxis der UNO und jene von NGOs und Stiftungen bei der Finanzierung von Kunstprojekten, die Frieden und Versöhnung herbeiführen sollen, unterzieht Wiedmer-Newman einer kritischen Betrachtung. «Das Wort Frieden hat für die Finanzierung von Erinnerungsprojekten eine sehr starke Wirkung», sagt die Kunsthistorikerin. Einige davon produzierten durchaus Orte der Begegnung. Andere, wie etwa das 2020 von der lokalen Regierung mit Unterstützung des OHR in Srebrenica errichtete Friedensdenkmal, riskierten jedoch, Konflikte wieder aufbrodeln zu lassen. Denn der in unmittelbarer Nähe stattgefundene Völkermord wird mit keinem Wort erwähnt.
Aus ihren Fallbeispielen leitet Wiedmer-Newman ab, wie die UNO den Friedensbegriff versteht. Ob die konkrete Vorstellung der UNO überhaupt den Erwartungen der Menschen in beiden Landesteilen entspricht, will die Forscherin untersuchen. «Frieden und Übergangsjustiz sind selbst Diskurse, die teilweise aus Symbolen bestehen wie Friedenstauben oder Erdkugeln», sagt sie. Wenn Kunstprojekte den spezifischen Zweck der Friedens- und Versöhnungsarbeit erfüllen müssten, bestünde die Gefahr, dass Künstlerinnen und Künstler instrumentalisiert werden. Darüber hinaus finde Friedensarbeit nicht nur über den institutionellen Weg statt, sondern passiere bereits im alltäglichen Nebeneinander der drei Bevölkerungsgruppen. Das Thema behandelt Wiedmer-Newman in diesem Herbstsemester auch in einer Übung, in der sie versucht, Vergleiche zu aktuellen Erinnerungsprojekten in anderen Ländern zu ziehen, unter anderem zum geplanten Holocaustdenkmal in der Schweiz.
Die Kraft der Erinnerung
Statt Vergleiche mit der Erinnerungskultur in anderen Ländern bezieht die Slawistin Ljiljana Reinkowski in ihren Kursen oft aktuelle politische Ereignisse im postjugoslawischen Raum mit in die Diskussion ein – momentan vor allem die Massenproteste in Serbien und die Spannungen in Bosnien und Herzegowina infolge der Amtsenthebung Milorad Dodiks, des ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska. Etwa 20 Prozent der Studierenden in ihren Seminaren hätten biographische Bezüge zur Region. «Sie kommen mit Vorkenntnissen in die Kurse – wissen aber, dass das nicht viel ist und wollen so viel Neues wie möglich erfahren.» Für jene Studierende seien die Lehrveranstaltungen auch eine Form der Identitätsbildung.
Reinkowski beobachtet, dass viele Studierende der zweiten oder dritten Generation eine Zuneigung zur Jugo-Nostalgie haben. Was genau Jugo-Nostalgie im postjugoslawischen Raum ist, sei jedoch schwierig zu sagen, da es dazu keine flächendeckenden Untersuchungen gebe. «Man kann allerdings eine Diskrepanz zwischen offiziellen Narrativen und privaten Erinnerungen feststellen», sagt Reinkowski. 30 Jahre nach dem Abkommen von Dayton zeige dies vor allem eins: «Je turbulenter die Entwicklungen der Gegenwart vor Ort sind, desto stärker klammern sich die Menschen an ihre positiven eigenen Erinnerungen oder an jene älterer Familienmitglieder.»