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Bild und Freiheit (01/2017)

Die Form der Freiheit

Text: Simon Koenig

Ehemalige Kolonialländer wollten sich nach der Unabhängigkeit mit Architektur ein neues Gesicht geben. Dies nicht selten im Stil des Modernismus, der aber vielfach adaptiert wurde. Ein Projekt zeigt dies am Beispiel Indiens.

«Der Modernismus wurde als eine universale Sprache verstanden», erklärt Pathmini Ukwattage. Sie schreibt im Rahmen der «eikones» Graduate School eine Dissertation zur modernistischen Architektur auf dem indischen Subkontinent nach 1945. «Modernismus bedeutete Abstraktion», sagt sie, «und damit auch eine Freiheit und eine Loslösung von jeglichen Traditionen.»

In Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig wurden, fiel darum das Architekturkonzept des Modernismus auf fruchtbaren Boden. Dieser Ansatz erschien als kompatibel mit den Bestrebungen der in die Unabhängigkeit entlassenen Länder, eine eigene Identität neu zu begründen und darzustellen. «Der Modernismus schien von Nationalitäten, Religion, Ethnien und anderen kulturellen Paradigmen befreit zu sein», so Ukwattage. Zugleich vermittelte er aber auch einen ideellen Wert, nämlich etwas genuin Demokratisches, etwas, das alle verstehen konnten. So waren Begriffe wie Demokratie und Freiheit mit dem Bild des Modernismus eng verknüpft.

Le Corbusier, Palais de l’Assemblée (Parlamentsgebäude), Chandigarh, 1955.
Le Corbusier, Palais de l’Assemblée (Parlamentsgebäude), Chandigarh, 1955.

Neuer Stil gegen alte Zwänge

Eine ähnliche Affirmation lasse sich, so die Kunsthistorikerin, auch in anderen postkolonialen afrikanischen und asiatischen Ländern, aber auch in blockfreien Staaten wie etwa Ex-Jugoslawien beobachten. Es ging ihnen dabei auch darum, sich als eine glaubhafte Alternative zum kapitalistischen Westen und zum kommunistischen Osten abzugrenzen. Dies auch mit einem neuen Stil, um sich ästhetisch von althergebrachten Zwängen loszulösen: Über die Architektur und über die Kunst wurden Freiheit und Unabhängigkeit dargestellt und gelebt.

Zentraler Punkt in Ukwattages Forschung ist die jeweils hoch differenzierte Aneignung des Modernismus. «Während der Aneignung der modernistischen Prinzipien geschah natürlich etwas. Das ist das eigentlich Interessante», erklärt sie. «In Indien beispielsweise entwickelte sich eine charakteristische Architektursprache, die die vom Westen vorgeprägte Form jeweils in Hinblick auf klimatische, soziale und kulturell-spezifische Parameter modifizierte.»

Modernistische Architektur ist darum nur im Ansatz ein globaler Stil. In Wirklichkeit äussere sich modernistisches Bauen in Sri Lanka und Indien leicht anders als in anderen Weltregionen, denn die Architektur müsse ganz klar auf das tropische Klima reagieren. So würden Bauten zum Beispiel auf Fenster verzichten oder auf offene Durchgänge setzen, die die Luftzirkulation begünstigen. Es versteht sich von selbst, dass diese baulichen Entscheide Form und Ästhetik von Gebäuden beeinflussen.

Solche sogenannt fluiden Formen seien, so Ukwattage, bestens kompatibel mit den modernistischen Bauprinzipien. Gleichzeitig würden damit aber auch Urformen der indischen Architektur aufgenommen und in die modernistische Architektur integriert. Denn in Indien und Sri Lanka hat sich die Architektur schon immer mit Techniken der Temperaturregelung beschäftigt. Solche Beispiele zeigen, dass es erstens den Modernismus nicht in Reinform gibt und zweitens dieser Baustil anpassungsfähig ist und Freiheiten erlaubt.

Le Corbusier in Indien

Ein wichtiges Beispiel, das den Beginn einer Rezeptionsgeschichte des Modernismus in Indien markiert, ist die Stadt Chandigarh. Diese Planstadt sei, so die Forscherin, ein ideales Beispiel, um das transkulturelle Potenzial des westlichen Konzepts des Modernismus in Indien zu untersuchen. Mit der Unabhängigkeit wurde die ehemals britische Kolonie in die Einzelstaaten Indien und Pakistan aufgeteilt. Dadurch verlor die durch die Teilung betroffene Provinz Punjab ihren Regierungssitz. Auf Wunsch des Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru wurde für die Planung und Projektierung der Hauptstadt der beiden indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana der schweizerisch- französische Architekt Le Corbusier beauftragt.

Chandigarh hat einen Raster als Grundriss, der durch fünf verschiedene Strassentypen strukturiert wird, von Schnellstrassen bis zu Wegen, die für Radfahrer reserviert sind. «Die Stadt war anthropomorph konzipiert», erläutert Ukwattage. «Es gibt einen ‹Kopf ›, wo sich die drei riesigen Regierungsgebäude mit Exekutive, Legislative und Judikative befinden. » Die Lebensadern, wie Le Corbusier diese Strassen bezeichnete, führen zum «Herz», wo wichtige Gebäude wie Theater und Museen, aber auch städtische Verwaltungsgebäude stehen. Rundum liegen Quartiere, die eine eigene Infrastruktur für das alltägliche Leben besitzen.

«Unter dem Strich kann man sagen, dass die Stadt funktioniert», betont Ukwattage. Natürlich gebe es klare Defizite, beispielsweise weil das Bevölkerungswachstum die Erwartungen und Prognosen stark übertroffen hat. «Man merkt das sofort, wenn man sich in der Stadt bewegt. Die Infrastruktur ist zu klein, und rund um die Stadt haben sich suburbane Strukturen und Slums gebildet. » Aber gerade Le Corbusiers Sensibilität und sein Interesse für das Leben, die Kultur und das Klima dieser indischen Region trugen zum Gelingen des Lebens in der Stadt bei. Sie sei in keiner Weise mit anderen urbanistischen Projekten Le Corbusiers zu vergleichen, die oft fernab von kontextspezifischen Prämissen konzipiert wurden, sagt die Forscherin.

Modernismus mit Freiräumen

Ukwattage sieht die Gründe für den Erfolg der Stadt unter anderem darin, dass sich Le Corbusier sehr stark mit Indien auseinandergesetzt hat: «Er wollte mit Chandigarh eine Stadt bauen, die den spezifischen Anforderungen der Bevölkerung entsprach.» So bezog er Elemente traditioneller Architektur mit ein und setzte sich intensiv mit der indischen Geschichte und Kultur auseinander. Für ihn und sein Architekturbüro, das sich im Team um das Bauprojekt kümmerte, bedeutete Modernismus nicht die Applikation eines geschichts- und traditionslosen Stils.

Gerade in Chandigarh zeigte sich der Modernismus als Architekturstil und -technik als geeignet, um mit dem Alten zu brechen. Indien konnte hier hochmodern sein, ohne sich visuell auf die ehemalige Kolonialmacht beziehen zu müssen. Es zeigte sich auch, dass der Modernismus als stilistisches Vehikel genügend Freiräume und Modifikationen anbot, um in unterschiedlicher Weise auf die geografische, soziale und klimatische Situation vor Ort zu reagieren. Modernismus steht also sozusagen für die Freiheit des Landes, die neu gewonnene Unabhängigkeit zu zelebrieren, darzustellen, aber auch adäquat zu leben.


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