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Forschen im Dienste der Nachhaltigkeit (01/2015)

Wenig Reue angesichts des Todes

Christoph Dieffenbacher

Wer sich gedanklich mit dem Tod befasst, bereut gar nicht so viele Dinge in seinem Leben, wie man meint. Ein Grund dafür könnte sein, dass wir unser Selbstwertgefühl angesichts der Sterblichkeit nicht gefährden wollen – und dabei die Vergangenheit neu interpretieren.

Non, je ne regrette rien» («Nein, ich bereue nichts») sang die französische Sängerin Edith Piaf, bereits schwer krebskrank, drei Jahre vor ihrem frühen Tod im Jahr 1963. In ihrem Chanson, das sie der Fremdenlegion widmete, heisst es, sie bedaure weder die schlechten noch die gute Dinge in ihrem Leben, weder die vergangenen Liebschaften, die Sorgen noch die Freuden – all das sei ihr egal. Auch das Sprichwort, wonach das Leben zu kurz sei, um Vergangenes zu bereuen, ist verbreitet. Ebenso populär ist aber die Vorstellung, dass wir, je intensiver wir uns mit unserem Ende befassen, vieles im Leben bedauern würden: dass man beispielsweise etwas Bestimmtes hätte tun oder lassen sollen. «1000 Places to See Before You Die» und «The Top Five Regrets of The Dying» sind nur zwei Titel aktueller Buchbestseller.

Bedrohung des Selbstwerts

Ein Team der Sozialpsychologie der Universität Basel wollte es genauer wissen und führte eine Untersuchung durch, die die Frage zu klären versucht, ob Menschen angesichts des Todes eher Reue zeigen oder nicht. Befragt wurden nun aber nicht direkt Todkranke oder Sterbende, sondern Menschen verschiedener Altersstufen, tendenziell eher jüngere. Die Studienresultate, im Fachblatt «Journal of Experimental Social Psychology» erschienen, werden wohl manche erstaunen: «Wer mit dem Thema Tod konfrontiert worden ist, entwickelt weniger Reuegefühle in Bezug auf sein bisheriges Leben», fasst Erstautorin Selma Rudert die Ergebnisse zusammen. Die junge Doktorandin war vor zweieinhalb Jahren mit Prof. Rainer Greifeneder von der Universität Mannheim nach Basel gekommen und forscht daneben auch über soziale Ausgrenzung als Bedrohung des Selbstwerts.

Für die Reue-Studie wurden Menschen in drei Testreihen gezielt dazu aufgefordert, Gedanken über den Tod schriftlich festzuhalten und sich dabei in eine Situation kurz vor dem eigenen Ende hineinzuversetzen. Die Probanden der Kontrollgruppe sollten aufschreiben, was ihnen zum (vergleichsweise harmlosen) Thema Zahnschmerzen in den Sinn kam. Darauf wurden alle Teilnehmer mit einer anderen Aufgabe abgelenkt, und schliesslich sollten sie alles aufschreiben, was sie bereuen, wenn sie auf ihr Leben zurückblicken. In einem der Tests konnten sich die Probanden zudem aus einer vorbereiteten Liste bedienen, etwa: «Ich bereue es, nicht genug Zeit mit meiner Familie verbracht zu haben» oder «Ich bereue meine Entscheidungen zu meiner Ausbildung oder beruflichen Karriere».

Befragung online und im Labor

Bei allen drei Gruppen von je zwischen 85 und 116 Personen ergab sich derselbe Effekt, sagt Selma Rudert: «Probanden, die kurze Zeit vorher Sätze über ihren eigenen Tod aufgeschrieben haben, halten weniger Bereuenswertes in ihrem Leben fest.» Wenn sie dagegen aufgefordert wurden, rückblickend zusätzlich auch noch Positives aufzuschreiben, gab es keine Unterschiede zur Vergleichsgruppe. Anders gesagt: An den Tod zu denken, vermindert die negativen Erinnerungen, die positiven bleiben gleich. Ausgewertet wurden die Antworten aus je einer Online-Umfrage aus den USA und Deutschland sowie aus einer Befragung in einem Laborraum der Universität Basel mit Psychologiestudierenden. Hier lag der Altersdurchschnitt bei knapp über 20 Jahren, während er bei den anderen beiden Stichproben höher war.

Was genau bereuen denn aber alte und junge Menschen im Leben am meisten – sind es zum Beispiel die Beziehungen zu Menschen, das Engagement im Beruf oder der Umgang mit der Zeit? Was sind die «Hauptobjekte» des Bedauerns? Diese waren in den verschiedenen befragten Gruppen breit verteilt und reichten von Reue darüber, nicht mehr Zeit mit der Grossmutter verbracht zu haben, bis zu Reue, dass man sich als Jugendlicher nicht stärker auf die Schule konzentriert hat. Bekannt ist aus der sozialpsychologischen Forschung, dass Menschen eher etwas bedauern, was sie nicht getan haben – was man getan hat, wird weniger bereut. Diese Befunde konnte die Basler Studie bestätigen.

Theorie bestätigt

Die Ergebnisse, erläutert Selma Rudert weiter, unterstützen und erweitern eine bestimmte Theorie in ihrer Disziplin: die sogenannte Terror-Management- Theorie. Danach wollen Menschen, die mit ihrem Tod konfrontiert werden, ihren Selbstwert schützen und steigern – und damit zugleich auch die eigene Kultur und Gesellschaft, der man angehört und die einen überleben wird. Angewendet auf die Basler Studie, würde das heissen: Wer über seine Sterblichkeit nachdenkt, fühlt sich zunächst zwar verängstigt, reagiert aber auf diese Bedrohung, indem er sein Leben und seine Umgebung als wichtig ansieht – Gedanken, die den Selbstwert aufrechterhalten und sogar noch erhöhen. «Unsere Vermutung ist», sagt die Sozialpsychologin, «dass wir dann die negativen Dinge in unserem Leben relativieren oder wahrscheinlich sogar ins Positive uminterpretieren.» Man möchte das eigene Ende so positiv wie möglich erscheinen lassen und daran festhalten, ein sinnvolles Leben gelebt zu haben.

Bereuen hat die positive Seite, dass man zum Beispiel frühere Fehler nicht wiederholt – aber stark ist auch die negative, die schädliche und lähmende Seite. Wenn sie aus der Studie ein Fazit ziehen müsste, so die Psychologin, wäre es dieses: «Die negativen Seiten in unserem Leben werden angesichts des Todes unwichtiger.» Man solle sein Leben nicht danach ausrichten, etwas später nicht bereuen zu müssen, wie die aktuellen Buchtitel suggerieren. Dies alles lässt sich natürlich nicht direkt auf Menschen übertragen, die unmittelbar vom Tod bedroht sind. Die Resultate könnten aber etwa für die Entwicklungspsychologie von Interesse sein, so Selma Rudert, für die Palliativmedizin, die Alterspsychiatrie oder aber auch für das Pflegepersonal, Ärzte und Ärztinnen, Angehörige von Kranken.

«Regrets, I’ve had a few/But then again, too few to mention» («Bereut hatte ich einiges/Aber dann auch wieder zu wenig, um es zu erwähnen»), heisst es im Lied «My Way» des US-Sängers und Entertainers Frank Sinatra von Ende 1968, in dem ein alter Mann kurz vor dem Tod über seine bisherige Zeit nachdenkt. Er habe sich mit seiner Sterblichkeit abgefunden und übernehme Verantwortung für das, was er in seinem Leben getan oder gelassen hat: «Yes, it was my way» («Ja, es war mein Weg»), lautet die letzte Liedzeile. Frank Sinatra überlebte seinen Song allerdings ziemlich lange – um fast 30 Jahre.

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