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Forschen im Dienste der Nachhaltigkeit (01/2015)

Wann ist der Mensch tot, Stephan Marsch?

Stephan Marsch
Stephan Marsch ist Klinischer Professor für Intensivmedizin an der Universität Basel und Chefarzt der Medizinischen Intensivstation am Universitätsspital Basel. © Illustration: Studio Nippoldt

Biologisch ist der Tod kein singuläres Ereignis, sondern ein Prozess. Nach einem Herzstillstand stirbt das gesamte Gehirn innert weniger Minuten ab, während andere Gewebe dank einer höheren Toleranz für Sauerstoffmangel deutlich länger vital bleiben. Die Hornhaut des Auges kann Verstorbenen bis 72 Stunden nach dem Tod entnommen und erfolgreich transplantiert werden. Gewisse Zellen und Gewebe können sogar bis eine Woche nach dem Tod entnommen und erfolgreich in Kultur vermehrt werden.

Wegen seiner gesellschaftlichen Relevanz ist eine zweifelsfreie Feststellung des Todes von grosser Wichtigkeit. In früheren Zeiten war das vergleichsweise einfach: Ein Toter war steif, kalt und blass. War dieser Zustand erreicht, bestand die empirische Gewissheit der Irreversibilität. Wie erwähnt, können nach dem so definierten Tod Gewebe transplantiert oder in Kultur vermehrt werden. Wir können damit festhalten, dass die archaische Definition des Todes implizit zwei wesentliche Aspekte beinhaltet, die auch von moderneren Definitionen übernommen wurden: 1) der Tod ist definiert als Punkt im Sterbeprozess, ab dem eine Rückkehr des Individuums ins Leben empirisch nicht mehr möglich ist, und 2) nach dem Tod des Individuums können gewisse Körpergewebe mit technischer Hilfe vital gehalten werden.

Dank der Erfindung des Stethoskops war es ab dem 18. Jahrhundert möglich, durch Fehlen von Herzaktivität den Herztod zu diagnostizieren. Der Herztod erwies sich empirisch als irreversibel und erlaubte eine frühe und sichere Todesdiagnose. Als Nebeneffekt wurde das Herz neu als wichtigstes Organ betrachtet, dem selbst der Sitz der Seele zugeschrieben wurde. Diese Hypothese hat sich spätestens mit der erfolgreichen Herztransplantation relativiert.

Der Hirntod ist definiert als vollständiger und irreversibler Ausfall des Gehirns und des Hirnstamms. Mit Ausfall des Hirnstamms fällt das im Hirnstamm gelegene Atemzentrum irreversibel aus, womit eine selbstständige Atmung unmöglich ist und bleibt. Nur dank eines Beatmungsgeräts kann in diesem Zustand die Sauerstoffversorgung des Körpers und die Funktion der Organe vorrübergehend aufrechterhalten werden. Das Ausschalten oder der Ausfall des Beatmungsgeräts führt unweigerlich innert weniger Minuten zum Herztod durch Sauerstoffmangel. Damit wird verständlich, dass der Hirntod erst nach der Erfindung von Beatmungsgeräten ab Mitte des 20. Jahrhunderts erstmals beobachtet werden konnte. Der mit diesem neuen Phänomen verbundene medizinische und juristische Klärungsbedarf in Intensiv- und Transplantationsmedizin führte zur heute gültigen neurologischen Definition des Todes als Hirntod.

Wie seine historischen Vorgänger erfüllt der Hirntod das Kriterium der empirischen Irreversibilität. Auf der Zeitachse des Sterbeprozesses ist die Diagnose des Todes bei den wenigen betroffenen Patienten etwas früher möglich als beim Herztod. Die Herleitung der Wichtigkeit eines Organs aus der Reihenfolge des Zeitpunkts, bei dem ein Ausfall die Irreversibilität des Todes des Gesamtorganismus bedingt, lässt sich biologisch nicht begründen. Aus dem Hirntod auf ein Zentralorgan Gehirn zu schliessen, erscheint daher gleich müssig wie der historische Ansatz, aus dem Herztod auf ein Zentralorgan Herz zu schliessen.

Im Vergleich zu anderen Todesdefinitionen fehlt beim Hirntod die emotionale Erfahrbarkeit: Hirntote sind warm, sehen «lebendig» aus und es braucht Fachkenntnisse für die sichere Unterscheidung von Leben und Tod. Es ist ohne Zweifel legitim, die Transplantationsmedizin abzulehnen. Die offensichtliche Nützlichkeit des Konzepts Hirntod für die Transplantationsmedizin bietet ihren Gegnern eine komfortable Angriffsfläche ohne Notwendigkeit, sich als Gegner positionieren zu müssen. Es sei hier deshalb die Hypothese aufgestellt, dass wenn die Diagnose des Hirntods ohne Bezug zur Transplantationsmedizin nur zur Beendigung einer sinnlos gewordenen Intensivtherapie verwendet würde, das Konzept ausserhalb der Intensivmedizin nicht einmal zur Kenntnis genommen worden wäre.

Der Hirntod unterscheidet sich lediglich quantitativ (Zeitpunkt, Anzahl der transplantierbaren Organe), nicht aber qualitativ von vorgängigen Definitionen des Todes. Der Hirntod ist als Todeskriterium in der westlichen Welt etabliert und wie in der Schweiz in vielen Ländern in demokratisch legitimierten Gesetzen verankert. Das Konzept wurde international wiederholt von breit abgestützten Kommissionen überprüft und immer wieder mehrheitlich für valid befunden. In den letzten Jahren gab es keine neuen Erkenntnisse. Es gibt daher momentan keinen Anlass für Änderungen der gegenwärtigen Praxis.

Debatte: Wann ist der Mensch tot, Andreas Brenner?

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