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Aargauer Juden: Vom Zwang zum Zusammenleben

Doppeltür-Haus in Endingen. (Foto: Roy Oppenheim, Lengnau)
Doppeltür-Haus in Endingen: Eine Tür für Juden, eine für Christen? Jedenfalls eine Metapher für das Zusammenleben unter einem gemeinsamen Hausdach. (Foto: Roy Oppenheim, Lengnau)

Endingen und Lengnau im Aargauer Surbtal gelten als Zentren der jüdischen Bevölkerung in der Schweiz. Wie sich das Leben in diesen Dörfern entwickelte, ist Thema einer neuen Publikation. Deren Mitherausgeber ist Jacques Picard, emeritierter Professor für Geschichte und Kulturen der Juden in der Moderne an der Universität Basel.

15. Oktober 2020

Doppeltür-Haus in Endingen. (Foto: Roy Oppenheim, Lengnau)
Doppeltür-Haus in Endingen: Eine Tür für Juden, eine für Christen? Jedenfalls eine Metapher für das Zusammenleben unter einem gemeinsamen Hausdach. (Foto: Roy Oppenheim, Lengnau)

Herr Picard, wie kam es, dass die jüdische Bevölkerung im Aargau von der Eidgenossenschaft im 17. Jahrhundert gezwungen wurde, sich in bestimmten Dörfern im Surbtal anzusiedeln?

Die jüdische Bevölkerung war im Spätmittelalter aus den meisten Städten vertrieben worden. Nach den Wirren des Dreissigjährigen Kriegs lebten in den ländlichen Gebieten im ganzen alemannischen Raum besonders viele Juden und Jüdinnen. Die Tagsatzung der Alten Eidgenossenschaft wies ihnen gegen Schutzgeld Orte zu, wo sie sich niederlassen konnten – eine Zwangsangelegenheit. Für das Surbtal war der nahe Messeort Bad Zurzach wichtig. Da es Juden verboten war, Land zu erwerben oder als Handwerker zu arbeiten, waren sie vor allem im Handel tätig.

Porträt von Jacques Picard
Prof. em. Dr. Jacques Picard. (Bild: Universität Basel, Departement Gesellschaftswissenschaften)

In Endingen und Lengnau etablierte sich also ein jüdisches Leben …

… es waren aber keine isolierten «Judendörfer», sondern hier lebte immer auch ein bestimmter Anteil Christen, jeweils etwa knapp die Hälfte. Die jüdischen Gemeinden feierten ihre eigenen Feste genauso wie die christlichen und pflegten ihre religiösen und gesellschaftlichen Traditionen – meist in Konvivenz, also in einem friedlichem Mit- und Nebeneinander. Die Synagoge stand unweit von der katholischen Kirche. Bekannt sind im Surbtal die noch bestehenden Doppeltürhäuser mit zwei nebeneinanderliegenden Eingängen – sie werden heute als Symbol für die Konvivenz gedeutet.

Gab es in den Dörfern auch Ausgrenzungen und Konflikte?

Die Konfliktlinien verliefen sozial bedingt meist innerhalb der christlichen und jüdischen Gemeinschaften selbst. Doch es kam auch zu Angriffen von aussen: Der «Zwetschgenkrieg» von 1802 mit Plünderungen und Vertreibungen kam einem antijüdischen Pogrom gleich. Er gilt heute als Mahnzeichen im Hinblick auf die später errungene politische Gleichstellung der Juden: In den 1860er- und 1870er-Jahren wurden die Niederlassungs- und die Kultusfreiheit in der Bundesverfassung verankert. Im Aargau dauerte diese Anerkennung besonders lange – schon vorher verwirklicht worden war die Gleichstellung bereits in elf liberalen Kantonen.

Mit der Emanzipation der Juden und Jüdinnen nahm die Bevölkerung im Surbtal ab, und viele wanderten aus. Warum?

Auch anderswo zogen mit der Industrialisierung viele Menschen vom Land in die städtischen Zentren. Surbtaler Juden wanderten nach Baden, Bremgarten und Zürich, ebenso in europäische Grossstädte und nach Nordamerika aus. Aus dem Aargau stammten die Vorfahren vieler bekannter Künstler und Kunstfreunde, etwa jene der Guggenheims, des Hollywood-Produzenten William Wyler («Ben-Hur») und des Komponisten Ernest Bloch. Umgekehrt sind später nicht wenige Juden aus dem Ausland in den Aargau gekommen, so die Musiker János Tamás aus Ungarn oder Joel Rubin aus San Francisco. Unter dem Begriff «Jüdischer Kulturraum Aargau» verstehen wir also einen Raum, der von der Aare bis nach Basel und Paris, Tel Aviv und San Francisco reicht.

Was ist vom jüdischen Erbe im Surbtal heute noch erhalten?

Bemerkenswerte architektonische Kulturzeugen, darunter die beiden Synagogen, die aber kaum noch gottesdienstlich genutzt werden, die Mikwe (Badehaus), der alte jüdische Friedhof und ein jüdisch-christliches Altersheim. Dieses einmalige Kulturerbe auf neue Weise zu beleben ist Zweck und Ziel des Vereins «Doppeltür», der aus dem bestehenden «Jüdischen Kulturweg» hervorgegangen ist. Das geplante Besucher- und Kulturzentrum soll die Geschichte von Endingen und Lengnau sichtbar und erlebbar machen und kulturelle Veranstaltungen initiieren.

 

Der Aargau als jüdischer Kulturraum

Eben erschienen ist der umfangreiche, reich illustrierte Sammelband Jüdischer Kulturraum Aargau, herausgegeben von Prof. Dr. Picard und Dr. des. Angela Bhend, der aus einem Forschungs- und Publikationsprojekt der Universität Basel hervorgegangen ist. Über 50 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen – von Geschichte und Archäologie über Judaistik, Volkskunde und Linguistik bis zu Kunst- und Musikwissenschaft – beleuchten die Vergangenheit und Gegenwart von Juden und Jüdinnen, die aus dem Aargau und in den Aargau kamen – festgehalten in zahlreichen Epochenbildern, Themenbeiträgen und Einzelporträts.

Jacques Picard, Angela Bhend (Hg.): Jüdischer Kulturraum Aargau. Gebunden, 560 Seiten, 160 Abb., Verlag Hier und Jetzt, Baden / Zürich 2020. CHF 59..

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