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«Das Recht soll der Realität folgen»
Interview: Christoph Dieffenbacher
Ideen für Reformen des schweizerischen Familienrechts haben in den letzten Monaten für heftige Debatten gesorgt. Vorschläge dazu macht auch die Basler Rechtsprofessorin Ingeborg Schwenzer. Wie soll der Staat Partnerschaft und Familie in Zukunft regeln?
Änderungen des Familienrechts werden in der Schweiz intensiv diskutiert – warum gerade jetzt?
Es ist an der Zeit, sich zu überlegen, wie ein modernes Familienrecht aussehen könnte, das den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung trägt. Man soll sich dabei fragen, wie die Menschen tatsächlich leben. Dazu habe ich ein Gutachten verfasst, das von drei Grundsätzen geprägt ist: Der Staat soll sich erstens nicht in die Beziehungen von Erwachsenen einmischen, wenn sie fähig sind, sie selber zu regeln; weiter wichtig sind mir zweitens die Verantwortung gegenüber Partner und Kindern sowie drittens der Schutz des Kindeswohls – dieses steht eigentlich über dem Ganzen.
«Vom Status zur Realbeziehung» lautete bereits der Titel Ihrer Habilitationsschrift von 1987 zum Familienrecht …
Aufgrund der historischen Entwicklung und aus eigener Überzeugung kam ich damals zum Schluss, dass die Ehe nicht mehr als einziger Ausgangspunkt für das Familienrecht gelten sollte. Nichteheliche Lebensgemeinschaften, wie sie in einzelnen Kantonen noch bis in die 1990er-Jahre verboten waren, haben stark zugenommen. Dasselbe gilt für Kinder von Nichtverheirateten, deren Zahl mit dem neuen Sorgerecht ebenfalls noch weiter steigen wird.
Die Ehe soll nur noch eine von mehreren möglichen Lebensgemeinschaften bilden. Warum?
Früher war die Ehe ein Versorgungsinstitut für die Frau: Wenn sie gegen ihren Willen und schuldlos geschieden wurde, konnte sie den ehelichen Unterhalt bis ans Lebensende beanspruchen. Heute ist die Mehrheit der Paare in der Schweiz nicht verheiratet. Eine Re Regelung der vielfältigen Formen des Zusammenlebens dient auch dazu, das Kindeswohl zu sichern. Wie die Statistik zeigt, sind Patchwork-Familien anfälliger für Trennungen als traditionelle. Da ist auch die Frage, ab wann eine Lebensgemeinschaft rechtlich relevant ist und welche Leistungen bei einer Auflösung vergütet werden. Störend ist, dass bei einem nichtverheirateten Paar, das sich nach 20 Jahren trennt und von dem einer ein Haus besetzt, dieser den andern kurzerhand aussperren kann.
Dass die traditionelle Ehe auf dem Prüfstand steht, ist für viele mit Emotionen verbunden, auch dass Sie in Ihrem Gutachten Themen wie Inzestverbot und Mehrehe ansprechen.
Die Ehe soll beibehalten werden, weil sie eine wichtige Institution darstellt und weil Paare damit der Gesellschaft gegenüber kundtun wollen, dass sie zusammengehören. Die Unkenrufe, dass die Familie mit dem neuen Recht kaputtgehen würde, treffen nicht zu. Das Inzestverbot soll in gewissen Fällen genauer betrachtet werden, etwa zwischen Geschwistern, die aufgrund einer Adoption nicht miteinander blutsverwandt sind. Verhandelbar könnte auch das Verbot polygamer Ehen werden.
Wo stehen Ihre Vorschläge im Vergleich zum Ausland?
Viele Einzelpunkte sind in ausländischen Rechtsordnungen bereits verwirklicht, unter anderem etwa, dass die finanzielle Verantwortung zwischen Nichtverheirateten geregelt wird oder dass nicht nur die rechtlichen Eltern die elterliche Sorge für Kinder haben können. Ich habe daraus ein neues Ganzes zusammengesetzt, das in meinen Augen stimmig ist.
Ingeborg Schwenzer (*1951) ist seit 1989 Professorin für Privatrecht an der Universität Basel. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg/Br., Genf und an der University of California, Berkeley, promovierte sie 1978 und habilitierte sich 1987 im Familienrecht, worauf sie zur Rechtsprofessorin an der Universität Mainz ernannt wurde. Sie forscht vor allem auf dem Gebiet des Obligationen-, des Handels- und des Familienrechts. Seit einigen Jahren ist sie auch Adjunct Professor in Brisbane (Australien) und Hongkong (VR China).