Artikelinhalte
Mikrofilmarchiv: Bewahrung und Begegnung
Ramona Hocker
Das Mikrofilmarchiv des Fachbereichs Musikwissenschaft, in seiner Art in Europa einmalig, besteht seit genau 75 Jahren. Mit über einer Million Aufnahmen, darunter aus zahlreichen unveröffentlichten und zerstörten Quellen, ist es eine der grössten Sammlungen im deutschsprachigen Raum.
Winzige schwarze, fragile Zeichen auf durchsichtigem Zelluloid, ganze Codices entmaterialisiert und zusammengedrängt auf ein paar Metern Film, die ganze Musikgeschichte in einer Reihe Stahlschränke: Bach neben einem arabischen Traktat, ein kaum zu entzifferndes mittelalterliches Minnelied neben Orgelmusik, die Musik des Basler Konzils neben Opern vom Kaiserhof in Wien. Diese Schränke sind eine kulturelle Begegnungsstätte, sie bewahren, was zerfällt, in Privatsammlungen verschwindet oder vernichtet wurde. Schauen wir durch diese unzähligen Fenster hindurch, so geht der Blick in die Tiefe, in die Zeit der Entstehung all dieser Handschriften – aber im Licht des Projektors spiegelt sich auch das Filmmaterial wider und lädt ein zur Beschäftigung mit seiner eigenen Geschichte, der Geschichte des Archivs. Das Mikrofilmarchiv des Fachbereichs Musikwissenschaft wurde vor 75 Jahren gegründet. Erste Impulse gingen Ende 1936 vom damaligen Institutsleiter Jacques Handschin aus, der an die Freiwillige Akademische Gesellschaft ein Gesuch um 600 Franken für den Erwerb einer fotografischen Ausrüstung richtete. Damit sollten Aufnahmen von Handschriften hergestellt werden, um Studien anhand der überlieferten «Urmaterialien» durchführen zu können. Anfang 1937 wurden die Geräte sowie Zubehör wie Filme, Alben und Filmtaschen erworben, und somit war die Einrichtung für den Anfang lebensfähig. Bald wurden erste Aufnahmen von Schweizer Handschriften und von nach Basel ausgeliehenen Quellen gemacht. Von der schnellen Expansion zeugen auch die Jahresrechnungen des Instituts: In den ersten Jahren betrugen die Kosten für das Archiv an die 40% der gesamten Ausgaben. Auch die Korrespondenz der Bestellungen zeigt, dass schon im zweiten Jahr des Bestehens der geografische Radius ausgedehnt wurde und etwa aus dem «einzigartigen und musikwissenschaftlich noch wenig durchforschten Depot » der Bibliothèque Nationale in Paris Aufnahmen bestellt wurden. Der Aufbau der Basler Sammlung setzte für die Wissenschaft, besonders in der Erforschung der damals kaum bekannten Quellen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, wichtige Impulse. Noch heute ist diese mehr als 10’000 Filme oder über eine Million Einzelaufnahmen umfassende Sammlung in ihrer systematischen Sammlungstätigkeit und Vielfalt einzigartig in Europa: Sie enthält fast alle bekannten Quellen der ein- und mehrstimmigen Musik bis Ende des 15. Jahrhunderts, eine breite Auswahl an mittelalterlichen musiktheoretischen Handschriften aus dem europäischen wie dem arabischen Raum sowie repräsentative Bestände vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. In welchem Mass die Filme mit den gleichsam entmaterialisierten Handschriften selbst zu Zeugen der Geschichte wurden, zeigt sich in den Jahresberichten aus den Jahren während des Zweiten Weltkriegs: Einerseits wurde die Anschaffung neuer Aufnahmen durch Auslagerungen von Handschriften erschwert, anderseits waren es nun die Basler Filme, die den «auswärtigen Forschern Originale ersetzen, die gegenwärtig nicht benützbar sind» – in einigen Fällen bis heute. Dann nämlich, wenn die Aufnahmen aus der Anfangszeit des Archivs die einzigen Dokumente sind, die im Krieg vernichtete Quellen für die Forschung weiterhin zugänglich machen.