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Humor im jüdischen Kulturkreis
Desanka Schwara
Der jüdische Witz gilt allgemein als fein und hintergründig. Ursachen dafür sind wohl die schwierigen (Über-)Lebensbedingungen in der Diaspora: Mit Humor liessen sich leidvolle Erfahrungen von Mangel, Unterdrückung und Konflikten leichter ertragen.
«The secret source of Humor itself is not joy but sorrow. There is no humor in heaven.» Mark Twain
Eine leise, tiefsinnige Variante des Humors wird in der Fachliteratur dem jüdischen Kulturkreis zugesprochen. Formal weist der jüdische Witz zwar viele historische Züge auf, die diese Zuschreibung begründen, es ist allerdings nicht klar, wann er in seiner charakteristischen Form eigentlich entstanden ist. Die einen vermuten seine Anfänge nach 1800, die Diskussionen über eine formelle Gleichberechtigung der Juden begleitend. Andere sind der Ansicht, seine Spuren könnten bis zu Talmud und Tora zurückverfolgt werden. Tatsache ist, dass die meisten Witzsammlungen um 1900 erschienen sind. Dies lässt sich dem Umstand zuschreiben, dass die jüdische Literatur bis ins 19. Jahrhundert hauptsächlich religiösen Themen gewidmet war. Erst mit der haskala, der jüdischen Aufklärung, wurden neue Akzente gesetzt: Die jüdische Geschichtsschreibung hat im 19. Jahrhundert ihre Wurzeln, und die jiddische Literatur entfaltete sich zu ihrer vollen Blüte. Es überrascht daher nicht, dass Anekdoten und Witze erst um 1900 gedruckt wurden; umso mehr, als es sich hier um mündliche Tradition handelt, die oft von Gestik, Mimik und Tonfall lebt, was eine Wiedergabe in schriftlicher Form schwierig macht. Besonderheiten der jüdischen Tradition und der hebräischen Sprache sind die Quelle spezifisch jüdischer Witze, die von Wortspielen, Spielen mit der Bedeutungsvariabilität, Vieldeutigkeit und Klangvielfalt der Sprache leben. In der hebräischen Sprache können aus wenigen Wortwurzeln viele Formen gebildet werden. Im Talmud fehlt die optische Interpunktion und wird durch eine akustische ersetzt, durch jenes Heben der Stimme bei einer Frage und Senken bei einer Antwort. Auch von dieser Besonderheit macht der jüdische Witz vielfachen Gebrauch, deutet eine Frage als Antwort, eine Antwort als Frage. Hierhin gehören die zahllosen Erzählungen, die jüdische Personen vor Gericht auf eine Frage wieder mit einer Frage antworten lassen, oder jene Geschichten, in denen eine rhetorische Frage wörtlich genommen und beantwortet wird: Zum Beispiel die des Instruktionsoffiziers, warum der Soldat nicht mit einer brennenden Zigarre über den Kasernenhof gehen dürfe. Die Antwort des jüdischen Rekruten: «Recht haben Sie, Herr Unteroffizier, warum darf er nicht?» Witze, die auf Scheinlogik oder Normvertauschungen, nicht Normentlarvungen beruhen, verdanken wir ebenfalls ältester jüdischer Tradition. Talmudische Denkformen sind oft nicht in ein Regelsystem formaler Logik zu pressen. So wird häufig ein Beispiel aus einem inhaltlich ganz anderen Zusammenhang herangezogen, weil es einen formalen Beweiswert hat. Durch Verschiebungstechnik wird eine überbetonte Logik erreicht: Ein Pferdehändler empfiehlt dem Kunden ein Reitpferd: «Wenn Sie dieses Pferd nehmen und sich um vier Uhr früh aufsetzen, sind Sie um sechs Uhr in Pressburg. » – «Was mach’ ich in Pressburg um sechs Uhr früh?» Zahlreiche Witze bauen auf der sogenannten Pilpul-Methode auf (von «pilpel», «Pfeffer»), einer dialektischen Methode des Talmudstudiums, die den Zweck hatte, durch eine kritische Untersuchung und scharfe Beleuchtung des Für und Widers die Ansichten zu klären, das Verständnis zu vertiefen und den Verstand des Schülers zu schärfen. Da ist etwa der Heiratsvermittler, der den Bräutigam auf den Silberschrank der Zukünftigen aufmerksam macht und auf dessen misstrauische Frage, ob die Sachen nicht geliehen seien, mit überschiessender Dialektik antwortet: «Wer wird denn den Leuten was borgen!» Hier hat die Logik ihre eigentliche Aufgabe verfehlt, zugleich aber den wahren Tatbestand enthüllt. Viele Witzgruppen können thematisch klar dem jüdischen Kulturkreis zugeschrieben werden. Chassidim-, Talmud- und Rabbinerwitze lassen ebenso auf ihre Schöpfer schliessen wie die vielen Geschichten, die sich um Heirat, Taufe, Assimilation, Talmudstudenten, Schnorrer, um religiöse Gebote und die Schwierigkeiten mit den Behörden drehen. Nicht zuletzt lässt sich der jüdische Witz aufgrund fehlender Merkmale von andern seiner Gattung abgrenzen: Brutalität, Schadenfreude, derb-lustige Elemente und geistig-sprachliche Plattheit sind ihm fremd. Er ist frei von sadistischen Elementen, wie sie zum Beispiel viele Geschichten Wilhelm Buschs enthalten. Sicher gibt es Überschneidungen und Grenzfälle. Das lange Leben der Witze und ihr mit dem Alter änderndes Innen- und Aussenleben sind erstaunlich. Viele Witze überlebten formal, während ihr Inhalt einer bestimmten Umgebung, einer Zeit und einem Kulturkreis angepasst wurde. Ursprünglich im deutschsprachigen Raum um die Jahrhundertwende telegrafiert ein Anwalt seinem Kompagnon: «Die gerechte Sache hat gewonnen!» und bekommt umgehend die Antwort: «Sofort Berufung einlegen!» Diese Geschichte überlebt den Kommunismus und taucht in einer englischen Sammlung jüdischer Witze 1988 wieder auf, die Protagonisten haben gewechselt: Ein russisch-jüdischer Kaufmann schickt nach verlorenem Prozess ein vorsichtiges, aber unmissverständliches Telegramm an seine Frau: «Soviet justice has once again triumphed». Ihre Antwort: «file an appeal immediately». Auffallend ist der Wechsel von Selbstironie zu Fremdanklage.
Kulturelle Missverständnisse
Verfasst wurden die meisten Witze in Jiddisch. Für Nichtjuden wie auch für allzu assimilierte Glaubensgenossen waren viele sprachliche Feinheiten und kulturelle Besonderheiten unverständlich. Zahllose Pointen leben von eben diesen Missverständnissen: Ein Schofar – das Widderhorn, das in der Synagoge an Rosch-ha-Schana und am Jom Kippur geblasen wird – wurde gestohlen. Der Richter fragt, was das sei. Immer wieder behauptet der Zeuge, ein «Schofar» sei eben ein «Schofar»; schliesslich bequemt er sich zu der Übersetzung: «Es is e Trompeten.» «Nun, sehen Sie, wie Sie es mit einem Mal erklären können – warum haben Sie das nicht gleich gesagt?» «Herr Richter, nu, is es denn e Trompeten?» Fast nie gilt bei diesen Missverständnissen der Jude als Opfer, obwohl er nichtjüdischen Beamten, Richtern oder Bauern ausgeliefert zu sein scheint. Die Juden sind zwar stets faktisch unterlegen, doch leben die Witze von der emotionalen Überlegenheit der jüdischen Protagonisten durch ein Wissen um etwas, wovon der andere keine Ahnung hat. Selbst wo dem Juden Weltfremdheit zugeschrieben wird, ist seine Naivität doch eine liebenswerte Art, den andern zu fragen, ob er keine grösseren Sorgen habe, als auf kulturellen Unterschieden herumzureiten und sich besserwisserisch zu geben. Hirsch, am Schalter: «Geben Se mer e Billjett afzu Posen». «Afzu Posen habe ich nicht, nur nach Posen!» «Nu, auch gut, geben Se mer e Billjett nach Posen, werd’ ich das Stückele zu Fuss zurückgehen.» In Russland müssen den Juden vor allem die Behörden Sorgen bereitet haben. Im Mittelpunkt der Witze stehen Menschen, die sich ohne Bewilligung ausserhalb der Siedlungsrayons befinden. Ein entsprechender Pass wurde meistens nur Handwerkern zugestanden: Rabinowitsch wird aufgefordert, seinen Pass zu zeigen und seinen Namen zu nennen. Der Pass ist gefälscht – und er hat seinen falschen Namen vergessen. Er überlegt hin und her, der Name will und will ihm nicht einfallen. Schliesslich, nachdenklich: «Rabinowitsch hejss ich awade (wohl) nit.» Man kann natürlich versuchen, den Handwerksbegriff etwas auszudehnen: Ein russischer General kommt auf einen Juden zu und fragt ihn, ob er ein Wohnrecht habe. Der Jude bejaht, er sei Handwerker. Was denn sein Handwerk sei, will der General wissen. «‹Ich giss zusammen essig mit wasser.› Sogt der general: ‹Dos is doch kejn meloche (Handwerk) nit: dos ken ich doch ejch machen!› Macht der id: ‹No jo, hot ir taki ejch prawoshitelstwo (habt ihr eben auch Wohnrecht).›» Auch der unerschütterliche jüdische Glaube wird nicht verschont. Der allgemeine Tenor ist folgender: Es gibt keinen vernünftigen Grund, nicht an Wunder zu glauben, da sie doch täglich geschehen. Ein «rationales» Verhältnis zu Wundern ist die Folge: Eine Frau geht zum Rebben. Sie klagt über Durchfall. Der Rebbe verspricht, ihr zu helfen; er werde, wie in Notlagen üblich, Tillem (Lobgesänge, Psalmen) sagen. Nach ein paar Tagen klagt sie über Verstopfung. Der Rebbe verspricht wieder, Tillem zu sagen. Die Frau fährt auf: «Aber Tillem stopft!» Gerade weil es Wunder gibt, ist ein vorsichtiger, umsichtiger und vor allem sachlicher Umgang mit allem Überirdischen angesagt.
Sympathie für die Schwächeren
Der Witz gewinnt durch seine implizierte Kritik an Normen, Sitten und Institutionen Ventilfunktion. Das Lachen macht ihn zu einem sozial und psychologisch wichtigen Phänomen. Es wird ausgelöst, sobald man die Funktion der Pointe erkennt. Wesentlich ist, dass die Verfasser und Rezipienten von Witzen Form- und Sprachempfinden besitzen müssen. Die Art und der Grad der sprachlichen Manipulation bedingen auch den geistigen Anspruch eines Witzes. Neben dieser sprachlich-formellen Übereinstimmung ist auch eine psychische notwendig. Die Erzähler und die Zuhörer müssen über ähnliche innere Hemmungen verfügen, die durch Witzarbeit überwunden werden können. Über die gleichen Witze zu lachen ist ein Beweis weitgehender psychischer Übereinstimmung. Jeder Witz verlangt so sein eigenes Publikum. Der Umgang mit allem, was von der eigenen Norm abweicht, ist denn auch Thema fast aller Witze. Die Sympathie gilt den Schwächeren, die sich aber mit einem «Dreh», mit Geist, Witz und Sprache zu helfen wissen. Durch den Witz wurden Angriffe auf das Judentum und auf kulturelle Eigenheiten abgewehrt, zugleich diente er der Selbstkritik. Humor war eine Möglichkeit, mit Auseinandersetzungen, Uneinigkeiten und Missstimmungen gewaltfrei umzugehen. Der eigentliche Hang der Juden zu Humor ist wohl in den Lebensbedingungen der Diaspora zu suchen. Die Witze sind Zeugnisse eines Versuchs, sich Gerechtigkeit entgegen allen ungerechten Kräfteverhältnissen zu verschaffen. Man verweigert so die Opferrolle, in die man von der Umwelt gedrängt wird. Der Witz ist eine Form von Widerstand, der zwar die Zustände nicht verändert – aber das eigene Wohlbefinden. Die entscheidende historische Relevanz bekommt der jüdische Witz durch seine «Coping-Funktion»: Er ermöglichte den Umgang mit Konflikt-, Mangel- und Überanpassungserfahrungen und bot so Schutz vor krankhaften Reaktionen, die das widerstandslose Ausgeliefertsein an Situationen, wie sie das jüdische Volk auszuhalten hatte, zur Folge hätte haben müssen. Toleranz ist eine Frage der Strategie zum Umgang mit dem «Störenden», dem Fremden, dem der eigenen Individualität Entgegengesetzten – Humor als «Coping» ist eine der möglichen Strategien. In einer Irrenanstalt besteht ein jüdischer Kantor am Sabbat mit der Heftigkeit eines Verrückten auf koscherem Essen. Der Arzt muss sich entschliessen, den sonst harmlosen Kranken mit einem Wärter in ein jüdisches Restaurant zu schicken. Zurück in der Anstalt, geht der Patient im Garten spazieren. Dabei raucht er mit grossem Behagen eine Zigarre. Wie er so rauchend auf und ab geht, begegnet ihm der Arzt: «Lilienfeld, ich versteh’ Sie nicht … Koscher wollen Sie durchaus essen aus lauter Frömmigkeit … aber dann zünden Sie sich an Ihrem Sabbat seelenvergnügt eine Zigarre an …» Darauf erwidert Lilienfeld gemütlich: «Nu … wozu bin ich meschugge …?»