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Die Kraft der Natur
Karl Gademann
Chemische Moleküle aus der Natur lassen sich nicht nur aus natürlichen Quellen isolieren, sondern auch im Labor selber herstellen. Mit solchen Naturstoffen kann man biologische Prozesse gezielt steuern – und so möglicherweise bestimmte Gehirnprozesse oder toxische Algenblüten besser verstehen.
Das Verständnis von in der Natur vorkommenden Molekülen – ihrer Entstehung, ihren Eigenschaften und ihrer Verwendung – ist eine der grossen kulturellen Leistungen der Menschheit. Die Erkenntnisse einer Vielzahl von Wissenschaftlern sind unter anderem durch mehrere Dutzend Nobelpreise ausgezeichnet worden, was die Bedeutung dieser Forschung für die Gesellschaft unterstreicht. Natürliche Verbindungen lassen sich in verschiedene Klassen einteilen und reichen von grossen Proteinen und Nukleinsäuren (DNA und RNA) bis zu kleinen, nicht polymeren Molekülen. Diese sogenannten Naturstoffe haben viel zu unserem heutigen Lebensstandard beigetragen: Vitamine und Spurenelemente fördern die Gesundheit, Medikamente wie Antibiotika oder Zytostatika retten Leben und natürliche Farbstoffe machen das Leben (und unsere Lebensmittel) bunt.
Therapie von Alzheimer und Co.
Forschung an Naturstoffen führte zum Beispiel auch zur Entwicklung von oralen Kontrazeptiva (Antibabypille), die unsere Gesellschaft fundamental revolutioniert haben und das Problem der Überbevölkerung weiterhin anzugehen vermögen. Die «Pille» ist auch deshalb für die Wissenschaft von Interesse, weil hier ein ursprünglicher Naturstoff von Chemikern «massgeschneidert» wurde, um so verbesserte Eigenschaften davon zu erhalten. Diese Prozesse der Entdeckung neuer Naturstoffe, dem Verständnis von Struktur und Eigenschaft wie auch deren Synthese ist das Forschungsgebiet meiner Arbeitsgruppe an der Universität Basel. In unserer von einer immer höheren Lebenserwartung geprägten Welt nehmen neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson zu. Ihr Krankheitsbild ist durch eine Verkümmerung der neuronalen Netzwerke charakterisiert. Somit bilden Verbindungen, die das Wachstum der Nervenzellfortsätze (Neuriten) wieder anregen können, einen Ansatz zu einer möglichen Therapie. Wir haben eine Vielzahl von Naturstoffen aus verschiedenen Quellen synthetisch im Labor hergestellt und konnten in Zusammenarbeit mit Prof. Matthias Hamburger vom Departement Pharmazie der Universität Basel zeigen, dass diese Verbindungen und gewisse Derivate das Neuritenwachstum in Zellmodellen ankurbeln können. Zurzeit untersuchen wir den Wirkmechanismus dieser Verbindungen und konnten zum Beispiel die intrazelluläre Verteilung durch Derivate aufzeigen, die mit Fluoreszenzfarbstoffen markiert wurden. Mit dieser Forschung wollen wir die Wirkmechanismen dieser Naturstoffe besser kennenlernen und so vielleicht einen neuen Ansatz für die Therapie neurodegenerativer Krankheiten gewinnen.
Besseres Trinkwasser
Die Menge und Qualität von Trinkwasser wird für immer mehr Menschen auf dieser Welt zu einer zentralen Herausforderung. Auch in Europa nehmen Gewässerverunreinigungen durch massive Algenblüten dramatische Ausmasse an; so bildete sich im Sommer 2010 in der Ostsee eine riesige Algenblüte, die sich über mehrere hundert Kilometer erstreckte und sogar vom Weltraum aus sichtbar war. Auch im Süsswasser treten, bedingt durch Eutrophierung, vermehrt toxische Cyanobakterien (Blaualgen) auf, die einen negativen Einfluss auf die Trinkwasserqualität haben und auch zum qualvollen Tod von Tieren führen können. Unsere Arbeitsgruppe versucht nun, neue Giftstoffe (Toxine) aus Cyanobakterien zu charakterisieren und deren Toxizität zu verstehen. In Zusammenarbeit mit Fachkollegen von der Limnologischen Station der Universität Zürich wurde ein neues Toxin – das Cyanopeptolin 1020 – aus dem Cyanobakterium Microcystis isoliert und strukturell, chemisch und biologisch charakterisiert. Sein Wirkmechanismus zeichnet sich vermutlich durch eine breite («dreckige») Protease-Hemmung aus, mit einer starken Inhibition von sogenannten Serinproteasen, bestimmten Enzymen, die Proteine spalten. Damit werden zentrale Prozesse im Organismus lahmgelegt, was zur beobachteten Toxizität führen kann. Zurzeit erforscht an der Universität Basel eine Doktorandin – im Rahmen des ProDocs «Predictive Toxicology» und in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Nordwestschweiz (Prof. Karl Fent) und der Universität Zürich (Prof. Jakob Pernthaler) – den Wirkmechanismus mehrerer Toxine, von denen sie mithilfe der chemischen Synthese Derivate herstellt, die sich dann zum Beispiel durch Fluoreszenzmikroskopie in Insekten oder Fischen verfolgen lassen. Weiter werden auch die Toxine durch synthetische Modifizierung «aufgeladen», sodass sie mit ihren jeweiligen Zielproteinen chemische Bindungen eingehen können. Das kann dann mit neueren Methoden, der sogenannten Proteomik, zur Identifikation der jeweiligen Zielproteine führen. Zudem haben wir in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus Österreich und Uganda neue Toxine aus Cyanobakterien charakterisiert, die in ugandischen Seen isoliert wurden. Auch dort hat in den letzten Jahren die Zahl von toxischen Algenblüten zugenommen. Ziel unserer Forschung ist es, durch ein besseres Verständnis der Algentoxine einen Beitrag zu einer Versorgung mit sauberem Trinkwasser zu leisten – in Europa, Afrika und auf der ganzen Welt. Diese beiden Beispiele zeigen, wie das chemisch-biologische Studium von Naturstoffen Beiträge zur Kenntnis grundlegender Prozesse im menschlichen Gehirn oder für eine saubere Trinkwasserversorgung leisten kann. Die «evolutionäre Weisheit» (Vladimir Prelog) von Naturstoffen, die sich durch die Evolution im komplexen biologischen Umfeld während Jahrmillionen gebildet hat, kann durch die strukturelle Analytik, chemische Synthese und biologische Tests ausgenützt werden, um zentrale Probleme der Menschheit besser zu verstehen und vielleicht eines Tages auch erfolgreich anzugehen.