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Kalte Moleküle – Chemie nahe am Nullpunkt
Stefan Willitsch
Die Kühlung von Atomen und Molekülen auf Temperaturen von knapp über dem absoluten Nullpunkt macht es möglich, chemische Reaktionen mit einer sonst nicht erreichbaren Genauigkeit zu untersuchen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse eröffnen neue Wege, um solche Prozesse zu kontrollieren.
Die Chemie ist die Wissenschaft von den Verwandlungen der stofflichen Welt. Eines ihrer Ziele liegt darin, neue Moleküle mit ganz bestimmten Eigenschaften zu schaffen. Für den Chemiker ist es daher essenziell, zu verstehen, wie Moleküle miteinander reagieren und welche spezifischen chemischen Veränderungen die gewünschten Eigenschaften erzeugen. Vor diesem Hintergrund stellt die Untersuchung der «Mechanik » chemischer Reaktionen eine der Hauptaufgaben der modernen Forschung dar. Im Kern geht es dabei um die Frage, wie chemische Reaktivität auf die ihr zugrunde liegenden physikalischen Gesetze zurückgeführt werden kann. Moleküle können sich im Raum bewegen, schwingen, drehen und im Zug einer chemischen Reaktion ihre Struktur verändern. Sie gehorchen dabei den Regeln der Quantenmechanik, der physikalischen Theorie des Mikrokosmos. Eine zentrale Frage ist nun, wie die Molekülbewegungen das Ergebnis einer chemischen Reaktion beeinflussen. Funktioniert eine bestimmte chemische Umwandlung besser, wenn die Moleküle mehr Energie besitzen, das heisst wenn man sie aufheizt? Welche Form von Energie ist dann für die Reaktion massgeblich? Ist es die kinetische Energie, die sich in der Geschwindigkeit der Moleküle ausdrückt, oder die Energie, die in den Schwingungen oder der Drehbewegung der Moleküle steckt? Welche Rolle spielt dabei die Energie der Elektronen im Molekül?
Ultrakalte Moleküle
Methodisch lassen sich solche Fragen beantworten, wenn es gelingt, die einzelnen Formen der molekularen Bewegung gezielt zu manipulieren, um dann ihren Einfluss auf die chemische Reaktivität zu untersuchen. Man möchte genau bestimmen, wie viel Energie in den einzelnen Bewegungen zur Verfügung steht – idealerweise auf der Stufe von einzelnen Molekülen. Die Etablierung einer solchen «totalen» Kontrolle über Moleküle war über Jahrzehnte hinweg ein wichtiges Ziel in der Chemie. Doch ist es erst im Verlauf der letzten Jahre gelungen, diesem Anspruch einen entscheidenden Schritt näherzurücken. Die Entwicklung neuartiger Techniken zum Kühlen von Atomen und Molekülen bis zu Temperaturen knapp über dem absoluten Nullpunkt (–273 °C) war dabei eine wichtige Voraussetzung. Einen eigentlichen Meilenstein dafür bildete die Entwicklung der Laserkühlung, das heisst das Abbremsen von Atomen durch Absorption von Lichtteilchen. Mit dieser Technik wurde es möglich, einzelne Atome in Bruchteilen einer Sekunde von Raumtemperatur auf wenige Tausendstel Grad über dem absoluten Nullpunkt abzukühlen. Solche Experimente finden nicht in Glaskolben und Lösungen statt, wie in der Chemie sonst üblich. Man bringt stattdessen die gasförmigen Atome in grosser Verdünnung in Ultrahochvakuum- Kammern ein, damit einzelne Teilchen isoliert und durch die Kühlung fast zum Stillstand gebracht werden können. Sind die Atome geladen (sogenannte Ionen), können sie mit elektrischen Feldern im Raum festgehalten, einzeln beobachtet und manipuliert werden. Der Kühlprozess erlaubt dabei eine präzise Kontrolle über die Geschwindigkeit der Teilchen, einen der wichtigsten Faktoren, welche die chemische Reaktivität beeinflussen.
«Mitfühlende» Kühlung
Laserkühlung funktioniert im Allgemeinen nur mit sehr einfachen Teilchen wie Atomen und nicht mit komplexen Gebilden wie Molekülen. Geladene Moleküle können jedoch «mitfühlend» gekühlt werden, was bedeutet, dass man sie zusammen mit lasergekühlten Atomen im selben Volumen im Raum festhält. In jüngster Zeit ist es nun an der Universität Basel gelungen, in solchen Experimenten zusätzlich die Drehund Schwingungsbewegung der Moleküle gezielt mit Energie aus Laserpulsen zu «versorgen». Eine umfassende Kontrolle über die Energie in den wichtigsten molekularen Bewegungsformen wurde somit erreicht. Als «Bonus» erzielt man durch die Lokalisierung der Teilchen eine so grosse experimentelle Empfindlichkeit, dass die Untersuchung chemischer Prozesse mit einzelnen isolierten Molekülen möglich wird – auch dies ist ein Novum in der chemischen Methodik. Auf der Grundlage dieser technologischen Fortschritte lassen sich nun «Reaktoren» zur Durchführung «ultrakalter» chemischer Prozesse konstruieren. In solchen Atom- und Molekülfallen werden Teilchen festgehalten und miteinander unter präzis kontrollierten Bedingungen zur Reaktion gebracht. Die Teilchen – neutrale Atome und atomare oder molekulare Ionen – werden darin entweder mit Laserlicht oder «mitfühlend» gekühlt. Die Laserstrahlung sorgt zusätzlich zu elektrischen und magnetischen Feldern dafür, dass alle Teilchen auch im selben Volumen konzentriert und zur Reaktion gebracht werden.
Präzise Steuerung
Mit Experimenten wie diesen, die seit Kurzem zur Verfügung stehen, existieren nun geeignete Werkzeuge, um dem Problem der chemischen Reaktivität mit einer zuvor nicht erreichbaren Präzision zu Leibe zu rücken. Erste Experimente in Laboratorien der Universität Basel und anderer Hochschulen haben neue Erkenntnisse geliefert, wie ungewöhnliche quantenmechanische Phänomene (wie zum Beispiel das sogenannte Tunneln oder Resonanzen) die chemische Reaktivität in gewissen Situationen massgeblich beeinflussen können – und wie sich das Bild drastisch ändern kann, wenn man die Energie in den Molekülen nur ein wenig umverteilt. Auf der Basis dieser Erkenntnisse konnten neue Wege zur präzisen Steuerung chemischer Reaktionen gezeigt werden, beispielsweise durch Anlegen von äusseren elektrischen Feldern. Es gibt auch Hinweise darauf, dass sich bei sehr tiefen Temperaturen neue Moleküle sehr effizient durch die Aussendung von Lichtteilchen bilden können. Dies ist ein ungewöhnlicher und exotischer Prozess, kann jedoch in Umgebungen wie der oberen Erdatmosphäre oder dem interstellaren Raum von Bedeutung sein. Man darf also erwarten, dass solche hoch präzisen Experimente in naher Zukunft neue, spannende Erkenntnisse über die Natur der chemischen Reaktivität liefern werden. Gemäss Francis Bacons Diktum «Wissen ist Macht» kann diese Kenntnis die Basis für eine bessere, in manchen Fällen sogar umfassende Kontrolle von chemischen Vorgängen bilden – oder aber auch zur Erkenntnis führen, dass ein bestimmter chemischer Prozess nicht wie gewünscht funktionieren kann und dass alternative Wege beschritten werden müssen.