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Universität Basel

Minieiweisse – molekulare Alleskönner

Helma Wennemers

Minieiweisse – Peptide genannt – sind in der Natur und in unserem Alltag allgegenwärtig. Sie treten zum Beispiel als Hormone, Neurotransmitter, Süss- und Antifaltenstoffe auf und können als Katalysatoren wie auch zur Herstellung von Nanopartikeln dienen.

Peptide sind kleine Proteine (Eiweisse) und sind wie diese aus Aminosäuren aufgebaut, also aus Verbindungen mit mindestens einer Amino- und einer Karbonsäuregruppe. Mithilfe von Kupplungen dieser beiden funktionellen Gruppen lassen sich Aminosäuren zu Peptiden und Proteinen verknüpfen. Den Begriff Peptid verwendet man, wenn weniger als 50 Aminosäuren aneinandergereiht sind; sind es mehr, spricht man von Protein. Die Bindungen zwischen den Aminosäuren sind extrem stabil und haben unter physiologischen Bedingungen eine Halbwertszeit von mehreren Millionen Jahren. Proteine und Peptide sind sozusagen Dinosaurier unter den natürlich vorkommenden Verbindungen. So ist zum Beispiel das Protein Kollagen heute noch in Dinosaurierknochen nachweisbar, und mehr noch: Seine Analyse zeigt, dass es so gut wie identisch ist mit jenen Kollagenen, die wir in unseren Knochen haben.

Unvorstellbar zahlreich
Wieso können Peptide so viele verschiedene Aufgaben übernehmen? Der Grund liegt in der enormen strukturellen und funktionalen Vielfalt, die durch die Verknüpfung verschiedener Aminosäuren zu einem Peptid erzielt werden kann. Ein einfaches Zahlenbeispiel verdeutlicht dies: Kombiniert man nur die 20 am häufigsten in Proteinen vorkommenden Aminosäuren zu allen möglichen Varianten von Pentapeptiden (Peptiden aus fünf Aminosäuren), so erhält man 205 = 3,2 Millionen verschiedene Peptide. Variiert man diese 20 Aminosäuren in einem Peptid aus 50 Aminosäuren wahllos, so sind gar 2050 = 1,1 x 1065 Kombinationen möglich – eine unvorstellbar grosse Zahl. Da sich die Struktur und daher die Eigenschaften der verschiedenen Aminosäuren signifikant unterscheiden, potenzieren sich diese Unterschiede in verschiedenen Peptiden. Es gilt dann, aus den vielen Varianten das am besten für die gewünschte Eigenschaft geeignete Peptid herauszufinden. Die Natur hat das durch die Evolution geschafft, und wie im Folgenden erklärt, nutzen auch Wissenschaftler gerne sogenannte kombinatorische Verbindungsbibliotheken, um Evolution im Zeitraffer abspielen zu lassen und aus einer grossen Zahl von Verbindungen die am besten geeignete zu identifizieren.

Süssstoff und Gifte
Ein einfaches Dipeptid ist zum Beispiel der Süssstoff Aspartam, zusammengesetzt aus den beiden Aminosäuren Aspartat und Phenylalanin: Es hat denselben Energiegehalt wie normaler Zucker, besitzt aber eine um das 180-Fache höhere Süsskraft. Die Entdeckung dieses Süssstoffs ist einem Zufall zu verdanken. Ausgangspunkt war das Peptidhormon Gastrin, das nach dem Essen im Magen freigesetzt wird und die Bildung von Magensäure reguliert. Da für die physiologische Aktivität des Gastrins hauptsächlich nur ein kleiner Teil des gesamten Peptids verantwortlich ist (lediglich eine Sequenz von vier Aminosäuren) und da man vermutete, dass dieser auch gegen Magengeschwüre wirken könnte, versuchten Wissenschaftler, dieses Tetrapeptid aus zwei Dipeptiden herzustellen. Im Labor passierte dann ein Malheur: Ein Kolben zerbrach, und der weisse Feststoff landete auf dem Boden. Irgendwie gelangte beim Aufräumen ein kleiner Teil davon auf die Zunge des Chemikers, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihn zu kosten (was man selbstverständlich im Labor nie tun sollte!): Der Stoff schmeckte süss – die Geburtsstunde von Aspartam! Ähnlich gehen auch die Entdeckungen von Penicillin, Teflon, Post-it, Viagra und vielem mehr auf eigentlich misslungene Experimente zurück, bei denen nach etwas ganz anderem geforscht wurde. Serendipity hatte ihre Hand im Spiel (vgl. Kolumne in UNI NOVA 115). Viele Schlangen und Frösche stellen Peptide her, die viel toxischer sind als jeder von Menschenhand hergestellte Giftstoff. Derartige Peptidgifte blockieren entweder die Nerven oder die Muskeln, was zum Beispiel zu einem Herzstillstand führen kann. Sie haben also einen definierten Wirkungsort, was eine für die Entwicklung von Medikamenten unabdingbare Voraussetzung ist, die sich oft nicht leicht erreichen lässt. Daher sind diese Peptide trotz oder gerade wegen ihrer Giftigkeit sehr gute Ausgangsverbindungen für die Entwicklung von verwandten Verbindungen, in denen die Toxizität durch gezielte chemische Veränderungen gezähmt ist. So stehen heute zahlreiche von Schlangen- und Froschgiften abgeleitete Peptide als Medikamente im Einsatz gegen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronische Schmerzen. Auch ein Tripeptid, auf dessen Wirkung gegen Hautfalten selbst Hollywoodstars schwören, wurde von einem Schlangengift abgeleitet: Es ist als Syn-Ake® auf dem Markt und wird unter anderem von einem grossen deutschen Detailhändler in Hautcrèmes vertrieben.

Nanopartikel aus Silber
Silber-Nanopartikel sind, wie der Name bereits verrät, kleinste Teilchen aus wenigen bis einigen tausend Silberatomen. Wegen ihrer geringen Grösse besitzen sie spezielle Eigenschaften, die für verschiedene Anwendungen überaus nützlich sind: Die antimikrobielle Wirkung von Silber-Nanopartikeln ist zum Beispiel für Beschichtungen von Implantaten wie Zahnprothesen und künstlichen Hüftgelenken interessant, ihre Leitfähigkeit für die Elektronik und ihre optischen Eigenschaften für bildgebende Verfahren. Die Eigenschaften von Silber-Nanopartikeln hängen stark von ihrer Grösse und Form ab, und so ist es wichtig, sie kontrolliert herstellen zu können. Und genau das stellt immer noch eine ungelöste Herausforderung dar. Meine Forschungsgruppe geht daher unter anderem der Frage nach, ob sich die strukturelle und funktionelle Vielfalt der Peptide nutzen lässt, um sie als Additive für die kontrollierte Herstellung von Silber-Nanopartikeln in definierten Grössen einzusetzen. Da die Vorhersage, welches Peptid für die Bildung einer bestimmten Partikelgrösse am besten geeignet ist, schwer oder gar nicht möglich ist, nutzen wir einen Weg, den die Natur selbst in der Evolution vorgemacht hat: nämlich aus vielen verschiedenen Peptiden jene zu identifizieren, welche die gewünschten Eigenschaften besitzen. Dazu stellen wir als Erstes sehr viele unterschiedliche Peptide in einer sogenannten «molekularen Bibliothek» her. Eine solche Bibliothek aus tausend oder auch einer Million verschiedenen Peptiden lässt sich über die Methode der «Split-und-Mix-Synthese» leicht innerhalb von einer Woche herstellen. Mithilfe eines cleveren Screenings gelang es uns dann, innerhalb der Bibliothek bestimmte Tripeptide zu identifizieren, in deren Gegenwart Silber-Nanopartikel mit einem Durchmesser von 50 Nanometern gebildet werden, und andere Tripeptide, die zur Herstellung von weitaus kleineren Silber-Nanopartikeln mit einem Durchmesser von weniger als 10 Nanometern dienen. Wieso in Gegenwart der unterschiedlichen Peptide Silber-Nanopartikel in verschiedener Grösse entstehen, ist nun eine Frage, der wir in zukünftigen Studien nachgehen werden.

Peptide als Katalysatoren
Jeder kennt den Begriff des Katalysators. In Autos ist er dafür verantwortlich, Verbrennungsschadstoffe in Wasser, Kohlendioxid, Stickstoff und andere harmlose Verbindungen umzuwandeln. Daneben gibt es aber auch viele andere Arten von Katalysatoren, die Stoffumwandlungen vermitteln, ohne dabei selbst verändert zu werden. In unserem Körper sind zum Beispiel zahlreiche Proteine als Katalysatoren (sogenannte Enzyme) für unseren Stoffwechsel verantwortlich. Obwohl Peptide aus denselben Bausteinen wie Enzyme bestehen und mannigfaltige Aufgaben in der Natur erfüllen, ist heute kein einziges katalytisch aktives Peptid in der Natur bekannt. Es ist daher eine spannende Frage, ob Peptide grundsätzlich als Katalysatoren agieren können und damit eine Rolle bei der Evolution von Proteinen gespielt haben könnten. Und zudem, ob katalytisch aktive Peptide effizient genug sein können, um zum Beispiel für die Herstellung von Medikamenten eingesetzt zu werden. Wiederum gelang uns über die Synthese einer «molekularen Bibliothek» und die Entwicklung eines cleveren Screenings ein Durchbruch. Über dieses an die natürliche Evolution angelehnte Experiment identifizierten wir Tripeptide, die sogenannte Aldol- und damit verwandte Reaktionen mit hoher Effizienz katalysieren. Reaktionen dieser Art gehören vermutlich zu den ältesten überhaupt, da die Bausteine von Kohlenhydraten mit ihrer Hilfe hergestellt werden können und diese sicherlich zu den ersten Verbindungen auf unserer Erde gehörten. Heutzutage sind derartige Reaktionen von grosser Bedeutung für die Synthese vieler Wirkstoffe – zum Beispiel lässt sich das Grippemittel Tamiflu auf diese Weise herstellen. Peptide können also sowohl sehr effiziente Katalysatoren für wichtige chemische Reaktionen sein als auch wie eine Art Minienzyme wirken. Obwohl die Natur sie bis heute nicht dafür vorgesehen hat (zumindest kennen wir keines), könnte es sein, dass sie auf dem Weg zu den Enzymen in der chemischen Evolution eine wichtige Rolle gespielt haben.

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