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«Höhere Dosen wohl kurzzeitig verkraftbar»
Christoph Dieffenbacher
Fukushima hat die Risiken von Atomkraftwerken weltweit wieder schlagartig ins Bewusstsein gebracht. Der Hämatologe Jakob Passweg über die Strahlenbelastung und die Therapie von Folgekrankheiten.
Nach dem Unglück von Fukushima ist radioaktive Strahlung in grossen Mengen freigesetzt worden. Wie hoch war die Dosis, die die ersten Räumungsarbeiter abbekommen haben?
Möglicherweise haben sie kurzfristig zwar hohe Dosen erhalten, die aber keine starke oder behandlungsbedürftige Form der Strahlenkrankheit auslösten. Eine kurzzeitige, nicht allzu starke Belastung kann der menschliche Körper biologisch relativ gut verarbeiten. Wir sind alle der natürlichen Strahlenbelastung ausgesetzt: Hier etwa sind es rund 4 Millisievert pro Jahr, in andern Weltgegenden mehr. Wer raucht oder sich oft in grosser Höhe aufhält, ist stärker belastet. Ab etwa 1000 Millisievert treten erste Krankheitssymptome auf. Die tödliche Dosis liegt bei 4000 bis 6000 ohne Support, mit maximalem medizinischem Support und Transplantation der Blutstammzellen bei 13’000 bis 15’000 Millisievert. Dabei wird das Knochenmark irreversibel geschädigt, bei noch höheren Dosen treten schwere Organtoxizitäten auf. In Tschernobyl starben Liquidatoren an der akuten Strahlenkrankheit; für die Aufräumarbeiten wurden danach offenbar Zehntausende von Menschen eingesetzt, von denen jeder relativ wenig belastet wurde. Folgeschäden können so relativ niedrig gehalten werden.
Ab wann ist denn Radioaktivität gefährlich?
Eine Schwelle gibt es nicht, sondern es ist ein Kontinuum: je mehr, desto schlechter. Man kann Grenzwerte festlegen, die nahe der «natürlichen» Exposition liegen. Aber in einer Ausnahmesituation wie in Fukushima müssen solche Werte für Aufräumarbeiten vorübergehend erhöht werden – um die übrigen Menschen vor Schlimmerem zu bewahren.
Wie stark schätzen Sie die Strahlenbelastung um Fukushima ein?
Ohne genaue Zahlen zu haben, darf man hoffen, dass die Behörden die Bevölkerung so gut wie möglich durch Evakuation geschützt haben. Was Menschen aushalten können, hängt auch von der Situation – so ist eine Bevölkerung im Krieg geschwächt – und der medizinischen Versorgung ab. Bei Unfällen oder einem Terroranschlag steht europaweit ein Spital-Netzwerk zur Verfügung. Auch das Universitätsspital Basel wäre bereit gewesen, akut verstrahlte Personen aus Japan zu behandeln.
Wie sehen die langfristigen Folgen in der betroffenen Region aus?
In den nächsten Jahren wird möglicherweise die Häufigkeit verschiedener Krebsarten ansteigen. Als weitere Spätfolgen tritt wahrscheinlich eine erhöhte Gefässalterung mit einer Zunahme von Herzinfarkten auf, zudem auch eine niedrigere Lebenserwartung. Besonders empfindlich auf Strahlung reagieren Ungeborene im Mutterbauch. Die japanischen Behörden haben von Tschernobyl gelernt, Jodtabletten verteilt und die Auslieferung verstrahlter Lebensmittel gestoppt. Die Zone um Fukushima wird längere Zeit nicht betretbar sein, wobei man unterschiedlicher Ansicht sein kann, ob der gewählte Radius gross genug ist.
Gibt es Notfallmedikamente bei starker Strahlenbelastung?
Strahlenschäden lassen sich nicht ungeschehen machen. Es gibt Medikamente zur ersten Entgiftung von Körpern, in die radioaktive Nukleide eingedrungen sind, andere, um die Regeneration von Knochenmark oder Darmschleimhaut zu beschleunigen. Der Unfall in Fukushima hat wahrscheinlich keine Todesopfer gefordert, während durch Erdbeben und Tsunami rund 25’000 Menschen gestorben sind. Trotzdem: Eine Strahlenbelastung für eine ganze Bevölkerung lässt sich in keinster Weise rechtfertigen.