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Universität Basel

Im Spiegel des andern

Joachim Küchenhoff

Die Begegnung zwischen zwei Gesichtern, die mimische Interaktion, bringt mehrere psychologische Herausforderungen mit sich: Verborgenheit, Bezogenheit und Exponiertheit. Dabei kann es in vielen Fällen zu Störungen kommen. Gedanken aus der Sicht des Psychiaters.

Blick hinter die Oberfläche: Die knöcherne und muskuläre Grundlage des Gesichts (links), Korrosionspräparat, bei dem in jede der jeweils zwei Kopf- und Halsarterien Kunststoff in einer andern Farbe injiziert wird (rechts).
Blick hinter die Oberfläche: Die knöcherne und muskuläre Grundlage des Gesichts (links), Korrosionspräparat, bei dem in jede der jeweils zwei Kopf- und Halsarterien Kunststoff in einer andern Farbe injiziert wird (rechts).

© Sammlung des Anatomischen Instituts Kiel

In der mimischen Interaktion bleibt das eigene Gesicht den miteinander Kommunizierenden verborgen, während das Gesicht des andern offenliegt. Dieser hat einen privilegierten Zugang zu einem Teil meines Selbst. Im Spiegel kann ich versuchen, mich so zu sehen, wie er mich vielleicht sehen könnte. Aber ich weiss, dass dies unmöglich ist, da ich das eigene Gesicht ja nur seitenverkehrt wahrnehmen kann. Das Gesicht gibt – ob ich es will oder nicht – von mir etwas kund oder preis, sobald ich mit andern zusammentreffe. Ich kann versuchen, meinen Gesichtsausdruck zu gestalten, den Blick des andern abzuwehren oder auf bestimmte Gesichtspartien zu lenken, und das in unterschiedlichem Ausmass, vom Lippenstift bis zu Botox. Aber ich sehe mich auch im Spiegel des andern – ich erkenne mich selbst und meine momentane Stimmung oft erst an seiner Reaktion. Das Gesicht ist Ausdrucksorgan, Spiegel, Blickfang, ein für den andern allzu offenes Buch – und dies alles zusammen und von früh an. Kein Wunder, dass wir das Gesicht mit Persönlichkeit und Identität besonders eng verbinden. Wäre es anders, gäbe es in der Kunst nicht ein unerschöpfliches Interesse am Porträt. Mimische Kommunikation erfolgt spontan. Die Bewegungen stimmen sich dabei sehr rasch aufeinander ein (mimische Reziprozität). Mimische Abstimmung kommt vor allem Nachdenken und ist unwillkürlich; sie ist der Reflexion zwar zugänglich, aber nur mit Verzögerung. Mimische Kommunikation lässt sich als mimische Konversation, als mimische Zwiesprache bezeichnen. Diese kann man so beschreiben: Wenn ich ein Gesicht sehe, reagiere ich sogleich mimisch darauf, und meine Reaktion, die die andere Person wahrnimmt, wird sie ihrerseits reagieren lassen, und diese ihre Reaktion wird wiederum ihren Niederschlag in einem Gesichtsausdruck finden. Auf diese Weise entwickelt sich die wechselseitige Abstimmung als adaptiver Prozess, der sich immer weiter entfaltet. Und dieser ist in seiner Spontaneität stark von Gefühlen begleitet. Die mimische Abstimmung gelingt sehr früh im Leben; in den ersten Lebensmonaten prägt sie geradezu die Interaktion von Mutter und Kind oder Vater und Kind. Mimische Zwiesprache und der Blickkontakt steuern die Interaktion zwischen Erwachsenem und Kleinkind. Aus der Säuglingsforschung wissen wir, welche Folgen eine misslingende Abstimmung («attunement») und das Fehlen mimischer Reziprozität haben: Beim Ausbleiben der mimischen Antworten kann sich das Kind nicht mehr orientieren; um Verwirrung zu vermeiden, zieht es sich aus der Interaktion zurück. Mimische Interaktion ist störanfällig. Das leibliche Gespräch garantiert keine stabile und harmonische Interaktion, die allenfalls sekundär störbar wäre. «Attunement» heisst nicht, dass mimische Reziprozität «in tune» verläuft. Sie wird angestrebt, aber nicht oder nicht auf Dauer erreicht. Die mimische Interaktion ist also weder statisch noch primär harmonisch. Mimische Abstimmung ist ein leiblich-affektiver Verstehens- und Verständigungsprozess.

Drei Herausforderungen
Aus diesen Analysen lassen sich drei psychologische Herausforderungen ablesen, die die mimische Interaktion mit sich bringt:
Bezogenheit: Der andere, dessen Gesicht ich sehe, verrät etwas von sich, dessen er nicht Herr werden kann, und ebenso verrate ich etwas von mir. Warum aber «Verrat»? Warum nicht «vertrauen» oder «sich anvertrauen»? In jedem Fall, ob nah oder fern, ob vertraut oder unheimlich, stellt sich eine affektive Wechselseitigkeit ein, und die gilt es zunächst einmal auszuhalten.
Entzogenheit: Wechselseitigkeit und Unmittelbarkeit bedeuten aber nicht Übereinstimmung. Mimische Interaktion ist störbar, nicht harmonisch. Das Gesicht des andern bezieht sich nicht nur auf das eigene Gesicht, sondern entzieht sich ihm ebenso sehr.
Exponiertheit: Es ist nicht möglich, sich dem Gesicht des atandern zu entziehen. Das eigene Gesicht ist mit dem eigenen Blick nicht zu erfassen; es ist aber zugleich dem Blick des andern ausgesetzt. Es gibt klinische Phänomene, die verstanden werden können als Versagen vor diesen Herausforderungen und zugleich als Versuche, mit ihnen fertig zu werden. Dabei wird zu zeigen sein, dass die drei Herausforderungen zusammenhängen, dass Bezogenheit, Entzogenheit und Exponiertheit in einem störanfälligen und oszillierenden Gleichgewicht gehalten werden müssen, das in einigen Krankheitsformen aus dem Gleichgewicht gerät.

Psychopathologische Phänomene
Blicke verführen und verschlingen, sie können töten. In der Antike steht die Gestalt der Medusa für diesen Zusammenhang, sie ist die schlangenhaarige, sinnlich machtvolle Frau, die mit dem Blick herrscht, aber es ist ein Blick, der die Männer zerstört, sie versteinert und erstarren lässt. Diese Erstarrung im Blick hat zwei emotionale Tönungen, sie kann mit Gefühlen der Ohnmacht, aber auch der Scham einhergehen. Dort wo der Blick des andern das Selbst verkleinert oder auflöst, ist die Erfahrung der Ohnmacht an den Blick des andern gebunden, das Selbst hat ihm nichts entgegenzusetzen. Beachtungs- oder Beobachtungswahn ist klinisch wohl das eindruckvollste Beispiel eines solchen Übermächtigwerdens des Blicks des andern. Weniger offensichtlich sind die klinischen Phänomene, an deren Ursprung zwar ebenfalls die Angst vor der Entmächtigung durch den Blick des andern steht, die Symptomatik aber dadurch geprägt ist, dass Gegen- oder Abwehrmassnahmen ergriffen werden gegen diesen übermächtigen Blick. Das wichtigste Beispiel ist die sogenannte Dysmorphophobie, also die Furcht vor der eigenen Missgestalt, die eine Spielart sozialer Angst und der Hypochondrie und sehr oft auf das Gesicht bezogen ist. Bei dieser Erkrankung sind Gefühle der Macht und Ohnmacht, aber auch der Scham angesprochen. Das dysmorphophobe Symptom ist zugleich versuchte Kompensation des Ohnmachtsgefühls: Ein Patient, der die Vorstellung hat, dass seine als wulstig erlebten Lippen allen Menschen seiner Umgebung auffallen, sodass alle auf ihn starren und er deshalb keinen Erfolg im Kontakt mit andern hat, kompensiert zugleich seine Unsicherheit, als würde er sagen: «Wenn nur meine wulstigen Lippen nicht wären, könnte ich selbstbewusst auftreten, wäre ich attraktiv. So aber habe ich einen Mangel ins Gesicht geschrieben, und deshalb schauen alle auf mich.» Ein weiteres, manchmal auch klinische Relevanz erreichendes Phänomen, das hier einschlägig ist, eine andere Gegenwehr, die Umwandlung der Erstarrung unter dem Blick des andern, ist die narzisstische Überbesetzung des eigenen Gesichts als eines (Seh-)Objekts. Statt eine Entmächtigung erleben zu müssen unter dem Blick des andern, wird der Spiess gleichsam umgekehrt: «Ich bin so attraktiv, dass ich die Blicke aller auf mich ziehen kann.» Die Kunst des Schminkens legt davon ein beredtes Zeugnis ab, und aus der Kunst kann ein Zwang werden. Von der Dysmorphophobie und dem zwanghaften Schminken ist es nicht weit bis zum Wunsch, sich den Makel im Gesicht, zum Beispiel die Lippen, operieren zu lassen. Der Chirurg ist gefragt, der den Körper nach der Wunschvorstellung des Patienten verändern soll. Dieser Versuch wird oft misslingen, umso mehr dann, wenn der körperliche Makel völlig eingebildet oder nur minimal vorhanden ist.

Störungen des Gleichgewichts …
Im Folgenden geht es um eine zur Dysmorphophobie komplementäre klinische Herausforderung, also darum, wie psychopathologische Phänomene aus der neurobiologisch bedingten Störung des Gleichgewichts zwischen mimischer Bezogenheit, Entzogenheit und Exponiertheit resultieren. Unter den neurologischen Erkrankungen ist in diesem Zusammenhang die Parkinson-Krankheit besonders wichtig. Die Schädigung der Basalganglien im Gehirn führt bekanntlich zu muskulären Koordinationsstörungen, die sich unter anderem in einer muskulären Starre zeigen, die zu den typischen Gangstörungen im Sinn eines kleinschrittigen, schlecht abzubremsenden Musters führen. Oft ist auch die Gesichtsmuskulatur betroffen, an ihr wirkt sich der Rigor als eine sogenannte Hypo- oder Amimie («Maskengesicht») aus. Schon frühzeitig wurde beschrieben, dass der Parkinson- Kranke nicht nur motorisch, sondern auch intellektuell eingeschränkt ist, langsamer denkt (Bradyphrenie) und dement werden kann. Ohne Frage ist diese Parkinson-Demenz die Folge eines schicksalhaften neurobiologischen Prozesses; aber sie ist es nicht völlig und nicht ausschliesslich. Durch das Fehlen von zentralnervösen Überträgerstoffen erstarrt die Gesichtsmuskulatur, wodurch die mimische Reversibilität unterbrochen wird. Die Amimie schleicht sich in der Regel langsam ein und wird von den Kranken erstaunlicherweise oft selbst lange nicht bemerkt. Aber sie prägt die Interaktion und wird von andern als Depressivität, Mürrischkeit oder Desinteresse wahrgenommen. Die andern ringen unter Umständen um eine Reziprozität, sehnen sich im Umgang mit dem Kranken nach einer mimischen Antwort, die sie nicht erhalten, bis sie – durch die Diagnosestellung unterstützt – aufgeben. Dann wird der Kranke einsam, er wird behandelt, als könne er nicht mehr antworten, als könne er nicht mehr mitdenken, so lange, bis er sich seinerseits abkapselt und isoliert. Das Leben mit der Gesichtsstarre macht es dem Kranken selbst, je länger es andauert, immer schwerer, Gefühle auszudrücken. Emotionen sind nicht allein psychische, sondern auch psychosomatische Erfahrungen, und eine fröhliche Stimmung ohne den – nicht begleitenden, sondern gleichzeitigen – Ausdruck eines Lächelns verkümmert. Es geht noch weiter: Wenn die Reversibilität unterbrochen ist, wenn das Ringen um ein «attunement», um eine leiblich-mimische Einstellung aufeinander zum Scheitern verurteilt ist, dann können Emotionen auch schlechter geteilt und schlechter verstanden werden. Überspitzt formuliert: Wer – prinzipiell, nicht bloss situativ – nicht mitlächeln kann, versteht das Lächeln des andern auch nicht. Das wird im Übrigen besonders deutlich bei Menschen, die an der seltenen, angeborenen doppelseitigen Gesichtslähmung leiden, dem Möbius-Syndrom. Sie müssen ihr Leben mit der – allerdings auf das Gesicht beschränkten – Lähmung verbringen, die der Parkinson-Kranke erst relativ spät im Leben erleidet. Interviews mit Möbius-Patienten im Erwachsenenalter zeigen, dass sie sich in die Gefühlswelt anderer hineindenken müssen, da sie sich nicht einfühlen können.

… und das psychoanalytische Setting
Welche Rolle spielt die mimische Interaktion für die psychotherapeutische Praxis? Sigmund Freud hat in seinem eigentümlichen Setting, der Psychoanalyse auf der Couch, die mimische Interaktion gezielt reduziert. Dadurch wird das Gleichgewicht der drei Faktoren verschoben. Das Setting schiebt einer allzu raschen mimischen Bezogenheit und verfrühten Affektabstimmung den Riegel vor. Wenn sich der Therapeut nicht in die sich rasch einstellenden Interaktionsmuster einklinkt, kann er sich dem Übertragungsangebot entziehen und es zusammen mit dem Patienten erkennen und bearbeiten. Das psychoanalytische Setting reduziert zweitens die Exponiertheit. Für Menschen, die sehr empfindlich auf die Abgrenzung von andern achten müssen, die schnell das Gefühl haben, in ihrer Integrität verletzt zu werden, kann die Exponiertheit im Gegenübersitzen als Auslieferung an den Blick des andern erlebt und solcherart bedrohlich werden. Sich nicht anschauen zu müssen, erlaubt dann, über die Stimme oder andere Zeichen leiblicher Präsenz mit dem andern unaufdringlich vertraut zu werden. Die Psychoanalyse auf der Couch spielt in der aktuellen Therapielandschaft nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Doch widmet sich die Psychotherapieforschung heute vermehrt der ausführlichen Vermessung jedes Gesichtsareals und jedes Muskels, die an der mimischen Interaktion beteiligt sind. Mimische Interaktion wird heute wichtig genommen, allerdings – so meine These – um den Preis einer Verkürzung: Entzogenheit, die Möglichkeit des Entzugs aus oder vor mimischer Interaktion, wird dort, wo der Therapeut oder die Kamera immer schaut, wo der Forscher jede Regung der mimischen Muskulatur registriert, nicht gestützt. Dadurch aber verschiebt sich das feine Gefüge, das die mimische Interaktion ausmacht und das ich als Oszillation zwischen drei Herausforderungen beschrieben habe. Wenn diese Interpretation richtig ist, fragt sich, ob sie verallgemeinerungsfähig ist. Das würde heissen, dass gesellschaftliche oder kulturelle Phänomene als Ausdruck einer Intoleranz gegenüber mimischer Entzogenheit oder als Reaktion auf diese verstanden werden können. Ein Beispiel für die erste Variante könnte die Intoleranz gegenüber der Verschleierung islamischer Frauen in westlichen Kulturen darstellen. Ein Beispiel für die Reaktion auf die verstärkten Anforderungen an mimische Interaktion könnte das sich immer weiter verbreitende Gesichtspiercing sein, von dem man sagen könnte, es folge einem Mechanismus, der sich so zusammenfassen lässt: «Wenn ich mein Gesicht nicht verstecken kann, ziehe ich alle Blicke auf es.» Die Intoleranz gegenüber der Gesichtsverschleierung und die sich im Piercing steigernde Blicklenkung auf das Gesicht sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

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