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Universität Basel

Ein Spiegel des Organismus

Magdalena Müller-Gerbl

Alles, was wir in unserem Inneren erleben, spiegelt sich im lebendigen Ausdruck des Gesichts: Seine wechselnden Züge und die unterschiedliche Mimik machen einen Menschen einzigartig und unverwechselbar.

Die Augen blinzeln, die Nase wird gerümpft, der Mund zuckt. Unser Gesicht spricht Bände. Pausenlos bewegen wir unsere Gesichtmuskeln, verändern unsere Mimik, senden Signale. Auch die Falten um Nase und Augen und die Form unseres Mundes erzählen Geschichten. Ohne die Botschaften des Gesichts ist menschliche Kommunikation kaum denkbar. Das Gesicht ist einer der faszinierendsten Körperteile eines Menschen, weil es entscheidend für die interaktive Kommunikation ist. Begegnen wir jemandem, schliessen wir zuallererst aufgrund seines Gesichts auf seine Persönlichkeit, seine Stimmung und seine Sympathie. Wenn wir ein fremdes Gesicht sehen, haben wir – ob wir wollen oder nicht – stets eine Fülle von Eindrücken, die über das unmittelbar Gegebene weit hinausgehen. Das menschliche Gesicht liefert zum Beispiel Informationen über Alter und Geschlecht, aktuelle Stimmung, physische Attraktivität und verschiedenste Persönlichkeitsmerkmale wie Geselligkeit, soziale Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität oder Intelligenz. Erst danach wandern unsere Blicke auf die Kleidung, den Körper und dessen Details.

Muskeln machen Mimik
Anatomisch wird die individuelle Gesichtsform durch die Knochen des Schädels, die Nasenknorpel und die auf beiden aufgelagerten Weichteile bestimmt. Dazu zählen die Kaumuskulatur, die mimische Muskulatur, der Wangenfettkörper, das subkutane Binde- und Fettgewebe sowie die darüber gespannte Gesichtshaut. Obwohl der Mensch als einzigen Schädelteil nur den Unterkiefer bewegen kann, ist das Gesicht nicht statisch: Durch die Aktivität der mimischen Muskulatur können die Weichteile mit grosser Flexibilität gegenüber der knöchernen Grundlage des Schädels verschoben werden. Diese Muskelbewegungen sind die Grundlage der Mimik, die den Menschen zum Ausdruck von Emotionen befähigt. 43 Muskeln verändern Stirn, Augen, Nase und Mund zu ständig wechselnden Gesichtsausdrücken; man braucht 17 Muskeln, um zu lächeln, und 43, um finster zu blicken. Das Gesicht kann durch kleinste Muskelkontraktionen über 10’000 verschiedene Signale aussenden. Die genaue Form des Gesichts ist genetisch determiniert. Durch die Linienführung der Weichteile ergibt sich der charakteristische Umriss, die Gesichtskontur. Von der Seite betrachtet, bezeichnet man sie auch als Gesichtsprofil. Die Gesichtsfarbe entspricht der übrigen Hautfarbe. Bei Menschen mit heller Hautfarbe zeichnet sie sich durch ein lebhafteres Kolorit aus, und zwar vornehmlich an den Wangen, deren Röte auf einer vermehrten Durchblutung beruht. Gewisse Nuancen der Gesichtsfarbe, namentlich eine ins Gelbliche, Bläuliche, Bleifarbene gehende, sind Anzeichen einiger Krankheiten. Schon sehr kleine Kinder reagieren auf Bilder von Gesichtern stärker als auf andere Abbildungen. In den Gesichtszügen der Eltern nehmen sie jede kleine Regung wahr. Der Blick ins Gesicht bleibt die wichtigste Informationsquelle, wenn wir andere beurteilen. Dort sind die Sinnesorgane angesiedelt, mit denen wir unsere Welt wahrnehmen. Vielleicht scheint uns das Mienenspiel deshalb so glaubwürdig, weil wir dort die unmittelbare Reaktion auf Umweltreize ablesen können. Die Sinnesorgane werden von zwei der entwicklungsgeschichtlich ältesten Teile des Gehirns gesteuert: dem Stammhirn und dem limbischen System, dem sogenannten Gefühlshirn. Dieses erhält Reizeinwirkungen von allen Sinnesorganen und bewertet alle eingehenden Informationen durch die fünf verbreitetsten Gefühle: Glück, Traurigkeit, Wut, Furcht oder Ekel. Die Gefühlsreaktionen lösen ihrerseits einen emotionalen Körperzustand aus. Und so kommt es, dass wir prompt lächeln, wenn wir einem netten Menschen begegnen – ohne vorher darüber nachgedacht zu haben. Auch das kann ein Grund sein, warum die Sprache des Gesichts von allen Menschen verstanden wird. Ein Gesichtsausdruck ist am besten objektiv beschreibbar, wenn man angibt, welche Muskeln dabei bewegt werden. Kalifornische Forschende haben ein System entwickelt, das die entscheidenden Mimikveränderungen einteilt und benennt. Sie glauben, dass überall auf der Welt die gleichen Emotionen die gleichen Muskelbewegungen hervorrufen. Auch beherrschte Menschen verraten ihre wahren Gefühle durch kleine Mimikveränderungen – auf Videos wurden ihre zuckende Augenbraue oder das kurze Zittern der Mundwinkel entdeckt. Im realen Gespräch registrieren wir solche Signale unbewusst. Die Sprache des Gesichts ist verräterisch. Wie sehr die Beurteilung eines andern vom Gesichtsausdruck abhängt, kann man an Menschen sehen, bei denen die Mimik – wie bei Parkinsonkranken – langsam verschwindet. Bei ihnen wird oft vom fehlenden Mienenspiel auf den Geisteszustand geschlossen: Ein starres Gesicht gilt als beschränkt und langweilig. Zu den elementarsten Fähigkeiten des Menschen gehört, andere am Gesicht wiederzuerkennen. Es funktioniert im Normalfall ohne grosse Mühe und in kürzester Zeit, und das, obwohl jedes Gesicht wegen seiner Mimik durchaus variabel ist. Wir erkennen, auch in einer Menge, ein vertrautes Gesicht sofort. Diese Leistung ist möglich, weil das Hirn rund 100 verschiedene Gesichtsmerkmale blitzschnell in zwei Klassen einteilt: in «gewöhnlich» und «aussergewöhnlich ». Gewöhnliche Merkmale blenden wir aus, also solche, die etwa 90% der bekannten Personen gemeinsam haben. Dieser Mechanismus versagt in fremden Ländern, wo alle Menschen «aussergewöhnlich» aussehen, weshalb für Europäer alle Chinesen zunächst gleich aussehen. Wie wichtig die Fähigkeit der Gesichtserkennung ist, erfahren jene etwa 1 bis 2% der Bevölkerung, die an sogenannter Gesichtsblindheit leiden. Jeder Mensch besitzt rund zehn Merkmale, die ihn aus dem Durchschnitt herausheben. Es sind jene, die in Karikaturen kräftig übertrieben werden.

Altern verschiebt Proportionen
Kein Teil des menschlichen Organismus spiegelt die Alterung so schonungslos wie der Gesichtsbereich. Dabei kommt es zu mannigfachen Veränderungen, die alle Strukturen betreffen. Allerdings altern die einzelnen Komponenten, die das Gesicht zusammenstellen – Haut, Unterhaut-Fettgewebe, Muskulatur und Knochenstruktur –, unabhängig voneinander. Bei jungen Menschen und noch im mittleren Lebensalter stehen alle in einem gewissen Gleichgewicht. Doch mit fortschreitendem Alter droht eine sogenannte Imbalance zwischen Knochen, Muskeln, Fett und Haut, wobei Letzterer die grösste Bedeutung zukommt: Elastizität und Dicke nehmen ab, was sich in einer erschlafften Gesichtshaut und Faltenbildung äussert. Dauernde Kontraktion der mimischen Muskulatur führt zu Einkerbungen, die nach Jahren als statische Falten manifest bleiben. Ausserdem kommt es in einigen Gesichtsbezirken zu einer Zunahme von Fett, in anderen Bereichen zu einer Reduktion. Das führt dazu, dass das Weichgewebe, der Schwerkraft folgend, herabsinkt – die Gesichtszüge fallen nach unten. Wissenschaftler haben unterschiedliche, voneinander abgegrenzte Fettdepots im Gesicht – Stirn-, Augen-, Wangen- und Mundbereich – ausgemacht, die die Fettzellen nicht nur unabhängig voneinander auf- und abbauen, sondern auch ungleich schnell altern. Beim Altern verschieben sich die Proportionen zwischen den vier Abschnitten, und die Übergänge zwischen ihnen werden härter. Deshalb plagen den einen mit den Jahren hängende, den anderen aber hohle Wangen. Wieder ein anderer bemängelt starke Augenfalten, während die übrige Gesichtshaut noch glatt ist. Auch die Gesichtsknochen erfahren typische Veränderungen und verlieren im Alterungsprozess unter anderem an Volumen, was sich vor allem im hufeisenförmigen Unterkiefer zeigt. Er verliert an Höhe und Länge, die seitlich ansetzenden, zum Kiefergelenk führenden Unterkieferäste werden kürzer und der Winkel zwischen beiden Elementen wird grösser und weniger markant, wodurch das gesamte untere Gesicht an Kontur verliert. Kein Körperteil steht so im Mittelpunkt wie das Gesicht, und keiner weist eine so grosse Dynamik auf. Es ist nicht nur der Spiegel unserer Seele, sondern ein Spiegel des gesamten Organismus. Das Gesicht lässt sich nicht betrügen, und es zeigt, was es zeigen muss: In seelischer Hinsicht ist es vor allem die Mimik, das Gebärdenspiel des Menschen als Schwerpunkt seiner Körpersprache; körperlich sind es meist Krankheiten, im Lauf des Lebens aber auch altersbedingte Veränderungen. Einiges ist genetisch vorbestimmt, anderes nicht zuletzt selbst zu verantworten.

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