Artikelinhalte
Grenzen überschreiten aus Leidenschaft
Michel Ecklin
Dominique Brancher, seit zwei Jahren Assistenzprofessorin für französische Literaturwissenschaft, hat ihren interdisziplinären Forschungsansatz nach Basel mitgebracht. Ihr Institut ist gerade im Umbruch – demnächst werden dort alle drei Professuren neu besetzt.
Fächergrenzen überschreiten, Brücken zwischen den Disziplinen bauen, den Dialog zwischen fachfremden Forschenden fördern – so versteht Dominique Brancher ihre Arbeit als Wissenschaftlerin. Interdisziplinarität zieht sich wie ein roter Faden durch alle ihre Forschungsprojekte. Als sie 2008 den Lehrstuhl für Ältere Französische und Allgemeine Literaturwissenschaft in Basel als Assistenzprofessorin übernahm, wusste sie noch nicht, dass sie hier «eine einmalige Gelegenheit» erhalten würde, wie Dominique Brancher heute sagt. Denn ein Jahr nach ihrem Stellenantritt wurden die beiden andern Ordinariate am Institut vakant, und völlig unverhofft avancierte sie so zur Institutsleiterin ad interim. Indem sie die Berufungsverfahren für die beiden andern Professuren betreute, konnte sie das Institut nach ihrem breiten Verständnis von Sprach- und Literaturwissenschaft neu ausrichten. Wie sieht dieses Verständnis aus? «Ich glaube an die belebende Kraft von Synergien, und zwar sowohl nach aussen als auch nach innen», erklärt sie ihre wissenschaftliche Position: «Der Dialog zwischen den Disziplinen ist absolut möglich.» So hat sie Doktorierende aus Basel in eine Graduate School eingeladen, die sie zuvor im Westschweizer Universitätsverbund gegründet hatte; hier werden sie eingeladen, jene theoretischen Fragen zu reflektieren, die ihren interdisziplinären Arbeiten zugrunde liegen – etwa die Beziehungen zwischen Literatur und Theologie, Literatur und Kunstgeschichte, Literatur und Naturwissenschaften. Ähnliche Dialoge fördert sie auf der Ebene des Masterstudiums, so etwa im kommenden Herbst, wenn ihr Institut zusammen mit den Basler Kollegen aus den Medienwissenschaften und der Orientalistik eine öffentliche Reihe mit Filmen aus dem Maghreb zeigen wird.
Renaissance als Modell?
Ihr betont interdisziplinärer Ansatz entspricht Branchers bisherigem Engagement, Wissenschaftsbereiche zusammenzuführen, die auf den ersten Blick auf völlig unterschiedlichen Denkweisen beruhen. Leiten lässt sie sich dabei von ihren Textuntersuchungen, in denen sich in der Renaissance die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften nachzeichnen lässt. «Erst im 19. Jahrhundert wurde die Literatur vom naturwissenschaftlichen Wissen getrennt», erklärt sie, «was in meinen Augen eine künstliche Aufteilung ist.» In der Zeit der Renaissance seien zum Beispiel Ärzte rhetorisch begabt gewesen, es habe einen intensiven Dialog zwischen Forschern und Poeten gegeben. Erst die – meist möglichst blumige – Beschreibung von individuellen Erlebnissen habe überhaupt Wissenschaftlichkeit geschaffen. Experimente in der Ichform zu beschreiben, habe als Zeichen von Glaubwürdigkeit gegolten. Heute würden das vielleicht noch die Ethnologen tun, doch in den auf neutrale Objektivität bedachten Naturwissenschaften sei dies verpönt. Die Wissenschaftslandschaft sei stark segmentiert. «Vielleicht kann die Renaissance ein Modell für eine bereichernde Annäherung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften darstellen», sagt sie. Einige Ansätze dazu soll zum Beispiel ein internationales Kolloquium zusammentragen, das die Forscherin im nächsten Jahr zusammen mit der Universität Genf geplant hat. Unter anderem werden dann Iberoromanisten und Medizinhistoriker interdisziplinär und interlingual dem Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und Dissidenz nachgehen. Erst die Fähigkeit, abweichende Fragen zu stellen, bringe Wissen überhaupt voran, lautet dabei ihre These. Und für 2013 will sie zusammen mit Zürcher Forschenden eine Tagung über die Frage organisieren, wie Gehirnspezialisten mit Literatur umgehen.
Lust auf Neuland
Wer der Genferin zuhört, wie sie mit Lockerheit Brücken zwischen den Disziplinen schlägt, spürt ihre Begeisterung, Neues zu entdecken und noch unerforschte Wege zu gehen. Interdisziplinarität ist seit mehreren Jahrzehnten ein inflationär verwendetes Schlagwort, das weiss auch Brancher. «Ohne diesen Begriff in einer Projektbeschreibung erhält man heute kaum mehr Förderungsgelder», meint sie lächelnd. Sie hat aber festgestellt, dass zwar oft der Wille zur fächerübergreifenden Forschung da sei, aber das theoretische Wissen darüber fehle: «Deshalb braucht es mehr Überlegungen zu den Methoden der Interdisziplinarität – auf diesem Gebiet gibt es noch einiges zu tun.» Ob die Forschenden bereit seien, über ihren eigenen Gartenzaun zu schauen, sei wohl auch eine Generationenfrage, meint sie; für sie sei es jedenfalls eine Selbstverständlichkeit. Ihre Erfahrungen mit der Interdisziplinarität möchte sie auch in der Lehre vermitteln, wobei sie in ihren Einführungskursen in die ältere französische Literatur auf ein gewisses Gleichgewicht setzt. Einerseits sollen die Studierenden einen soliden Literaturrucksack erhalten, mit Kenntnissen der klassischen Autoren wie Montaigne oder Proust. «Ich habe absolut nichts gegen monothematische Seminare», stellt sie klar. Doch anderseits will die Assistenzprofessorin die Analyseinstrumente vermitteln, damit die Studierenden den interdisziplinären Ansatz in den Texten selber erkennen können. Nur so sei es möglich, zwischen der Literatur und andern Kulturwissenschaften eine Durchlässigkeit zu schaffen. «Als Musikerin weiss ich, dass einem erst die Technik die Freiheit gibt, Eigenes zu entdecken», sagt die passionierte Hobbygeigerin. Lust, Neuland zu betreten, hat Brancher auch im geografischen Sinn: Untersuchungsgegenstand ihres Instituts soll generell die französische Sprache sein und nicht nur die Sprache Frankreichs. So will sie ihren Studierenden vermehrt Texte aus Afrika oder Kanada präsentieren. «Sie sollen zum Beispiel die Umwälzungen in Tunesien als etwas wahrnehmen, das die Frankophonie betrifft», erklärt sie. Basel lade ja geradezu zur Zusammenarbeit ein, denn hier habe der grenzüberschreitende Austausch Tradition. Dass sie dabei erwähnt, dass die Stadt im 16. Jahrhundert ein wichtiger Standort des aufkommenden Druckerhandwerks war, ist kein Zufall. Denn für sie sind es nicht nur die Inhalte, die alte Texte untersuchungswürdig machen, sondern immer auch ihr kulturelles Umfeld, wie sie an einigen Beispielen erläutert. So habe das Druckhandwerk Texte hervorgebracht, in denen das Layout neue Leseerlebnisse ermöglicht habe. Aber nicht nur die Materialität der Texte ändert sich, sondern auch die Art, wie die Übertragung von Wissen vermittelt wird: Humor sei ein übliches Stilmittel von Forschenden geworden, denn offenbar konnte man so das Publikum besser überzeugen. Und: «Was bedeutet es für den männlichen Verfasser eines medizinischen Texts, der über den Körper spricht, wenn die Alphabetisierung von Frauen voranschreitet und er mit weiblichen Leserinnen rechnen muss?»
Anregender Austausch
Basel ist für Dominique Brancher aber nicht nur aus historischer Perspektive ein guter Ort für ihre interdisziplinäre Haltung. Auch geografisch sieht sie die Stadt als Ort des Austausches und der Zirkulation von Wissen. «Die kulturelle Vielfalt dieser Region zwingt mich, meinen Geist in Bewegung zu halten und Selbstverständliches infrage zu stellen», sagt sie. In Basel sind alle Romanisten im gleichen Gebäude untergebracht, zusammen mit den Orientalisten. Das Konzept der Romanistik, eigentlich eine Erfindung aus dem deutschsprachigen Raum, erweist sich für Brancher als Glücksfall, denn hier würden zahlreiche kompetente Leute unter einem Dach arbeiten. «Ich habe noch nirgends so viele Menschen getroffen, die so offen für plurilinguistische Ansätze sind, wie in Basel», meint sie weiter. So erstaunt es nicht, dass sie die von der Universitätsleitung eingeleitete Zusammenfassung aller Sprachfächer in einem Departement begrüsst. Sie möchte das Institut für französische Sprachund Literaturwissenschaft zu einem «Leading House» in der Deutschschweiz aufbauen. Denn nicht zuletzt sehe sie darin eine Bestätigung des Entscheids der Regierungen von Basel- Stadt und Baselland, in den Schulen auf Frühfranzösisch zu setzen. Vorerst wartet Brancher aber gespannt auf den weiteren Verlauf der Berufungen für die beiden Professuren. Auf jeden Fall sei die geplante Neuausrichtung und Neukonzeptionierung des Instituts «ein spannender Prozess», sagt sie, die dabei als Beteiligte auch gleich eine «Feuertaufe in Universitätspolitik » erlebt habe. Viele offene, manchmal auch harte Gespräche habe sie geführt. Doch die Stimmung am Institut sei ausgezeichnet, das spüre sie während der wöchentlichen Mittagessen für die Mitarbeitenden, die sie eingeführt hat. Brancher ist davon überzeugt, dass im Haus eine tolle Dynamik einzieht, die in den kommenden Jahren zur Ausstrahlung des Instituts und damit auch der Universität Basel beiträgt – zugunsten der französischen Sprache und Literatur.
Prof. Dominique Brancher ist seit 2009 Assistenzprofessorin für Ältere Französische und Allgemeine Literaturwissenschaft (mit Tenure Track) an der Universität Basel. Nach dem Studium an den Universitäten Genf, Oxford und Paris XNanterre promovierte sie 2002 an der John Hopkins University in Baltimore (USA). Ab 2001 war sie Assistentin an den Universitäten Bern und Genf, war Gastprofessorin an der John Hopkins University und absolvierte einen einjährigen Forschungsaufenthalt in Paris. Ihr hauptsächliches Arbeitsgebiet ist die Geschichte des Körpers und der Scham in der Literatur in der frühen Neuzeit, wobei sie Textkritik, philologische Forschung und Kulturgeschichte verbindet.