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Universität Basel

Form und Funktion als Einheit

Kaja Schwenzer-Zimmerer

Das Gesicht des Menschen ist jener Körperteil, der für alle sichtbar ist und das primäre Kommunikationsorgan darstellt. Seine Form und seine Funktion lassen sich nicht voneinander trennen. Die moderne Gesichtschirurgie steht vor schwierigen Aufgaben, die sich aber mithilfe der Technik immer besser lösen lassen.

Die psychosoziale Bedeutung des Gesichts liegt zum einen im formalen Aussehen («normal» oder vom Durchschnitt abweichend), zum andern in den kommunikativen Funktionen wie Mimik und Sprechen und den weiteren Funktionen, die sich aus den dortigen Organen ergeben (Atmen, Sprechen, Sehen, Hören, Riechen, Kauen, Schmecken). Der erste Eindruck eines Gegenübers bei der ersten Begegnung führt sofort zu seiner unbewussten Einschätzung und seiner Beurteilung, die sich nur sehr schwer revidieren lassen. Daraus leiten sich die erheblichen psychosozialen Folgen ab, die angeborene oder erworbene funktionelle oder ästhetische Einschränkungen im Gesicht für die Betroffenen haben können. Die formale Besonderheit des Gesichts bei Menschen und Primaten im Unterschied zu allen «andern Tieren» liegt in der Nase als «Gesichtserker» und dem sichtbaren Lippenrot. Indem im Zug der Aufrichtung des Menschen die vorderen Extremitäten als Werkzeuge genutzt werden konnten, trat die Bedeutung der Schnauze als Greifwerkzeug zurück. So bildeten sich die Kommunikation und die Mimik weiter heraus, und es entwickelte sich die Möglichkeit einer differenzierten Sprache. Ein knöchernes Merkmal dafür ist die Spina mentalis, an der die Zungenmuskulatur im vorderen Unterkiefer ansetzt und die ebenfalls für den Menschen typisch ist. Gleichzeitig entwickelte sich das Gehirn weiter, insbesondere sein frontaler Anteil, der die Persönlichkeit widerspiegelt. Mit der Repräsentierung der Identität eines Menschen über die Kommunikationsorgane «Gesicht» und «Sprache» ergibt sich die enge Verknüpfung zwischen Ich- und Identitätsbegriff, also der Selbstwahrnehmung und der Aussendarstellung bzw. Fremdwahrnehmung. Was heisst das für die Gesichtschirurgie? Zum einen, dass sich beim Gesicht Form und Funktion nicht trennen lassen; sie bedingen sich sogar gegenseitig. Zum andern kann jede Einschränkung, aber auch jeder operative Eingriff (auch zum Positiven!) erhebliche Auswirkungen auf die Psyche der Patienten haben.

Vielfältige Krankheitsbilder
Im Gesicht kann eine Reihe von Krankheitsbildern auftreten. Zu den angeborenen Fehlbildungen und Formabweichungen gehören die Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, die mit 1 auf 500 Lebendgeburten relativ häufig sind. In der Schweiz rechnet man mit jährlich rund 120 bis 140 neu auftretenden Fällen. Gesichtsspalten werden in der Regel so früh wie möglich und sinnvoll – zumeist im ersten Lebensjahr – chirurgisch korrigiert. Gleichzeitig müssen in einem spezialisierten, interdisziplinären Team die betroffenen Funktionen, das Kind und seine Familie kontinuierlich bis ins Erwachsenenalter mitbehandelt werden. Die Behandlung von Kopfdeformierungen erfolgt meist konservativ durch Helme oder chirurgisch. Bei komplexeren Fehlbildungen kann auch das Mitwirken von Entwicklungsneurologie, Humangenetik, Neurochirurgie und weiteren Spezialdisziplinen erforderlich werden. Von erworbenen Fehlbildungen und Formabweichungen spricht man, wenn eine Gesichtsdeformierung erst mit der Zeit oder durch Fehlwachstum, ein Trauma oder einen Tumor entstanden ist. Ab wann einer Formabweichung Krankheitswert zugemessen wird, hängt vom Ausmass, der ästhetischen und funktionellen Beeinträchtigung und darüber hinaus auch von der subjektiven Einstellung der Beteiligten ab. Wenn der Ober- und der Unterkiefer zueinander und/oder im Verhältnis zur Schädelbasis nicht kongruent sind, spricht man von einer Dysgnathie. Meistens ist die Verzahnung von Ober- und Unterkiefer nicht passend, da es im Lauf des Wachstums zu einer parziellen Unter- oder Überentwicklung gekommen ist; ausserdem ist das Gesichtsprofil gestört. Die Ursachen dafür sind etwa erblich oder durch kindliche Verletzungen bedingt. Zudem kann es zu einer Fehlentwicklung aufgrund von muskulären Fehlfunktionen kommen. Ein bekanntes Beispiel für erblich bedingte Dysgnathien findet sich bei den Habsburgern, bei denen eine erbliche Disposition zur Unterkieferüberentwicklung bekannt ist. Eine solche Fehlentwicklung tritt häufig bei Patienten mit Down-Syndrom auf; bei ihnen führt eine hypotone Zunge, die kraftlos im Mundboden liegt, zur Überentwicklung des Unterkiefers bei gleichzeitiger Unterentwicklung des Oberkiefers. Der Sturz eines Kindes auf das Kinn kann eine Verletzung der Wachstumszonen in den Kiefergelenken und eine Unterentwicklung des Unterkiefers zur Folge haben. Die Behandlung dieser im Zug des Wachstums aufgetretenen Fehlbildungen erfolgt in enger Zusammenarbeit zwischen Kieferorthopäden, die die Zahnstellung durch Spangen beeinflussen, und Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen. Diese trennen nach einer 3-D-Planung die knöcherne Basis des Gesichts mithilfe von speziellen Sägen ab, verlagern sie millimetergenau und fixieren sie mit Titanplatten und -schrauben. Damit lässt sich eine normale Gesichtsarchitektur mit adäquater Verzahnung und damit guter Kaufunktion erzielen. Funktionstherapeuten trainieren im Rahmen solcher Behandlungskonzepte die Zungen und Lippenfunktion, um ein langfristig haltbares Ergebnis zu erzielen. Das Aussehen wird dabei im gleichen Mass wie die Funktion berücksichtigt und ein optimales ästhetisches Ergebnis bei bestmöglicher Funktion angestrebt. Mit modernen Planungstools können die Patienten und ihre Angehörigen sehr eng in diesen Prozess einbezogen werden. Denn Verlagerungen des Gesichts führen oft zu erheblichen Veränderungen im Aussehen, die den Patienten vorher bewusst sein müssen.

Von Knochenbrüchen…
Gesichtsverletzungen mit Knochenbrüchen treten sehr häufig auf – vor allem Brüche des Jochbeins und der Augenhöhle sowie des Unterkiefers. Dabei haben heute Freizeitunfälle andere Verletzungsursachen wie Verkehrsunfälle und sonstige Stürze, etwa Arbeitsunfälle, zahlenmässig überholt; ebenfalls eine Rolle als Ursache spielen Gewaltdelikte und Schlägereien. Knochenbrüche mit verschobenen Knochenfragmenten werden im Gesicht heute meist durch eine Operation in Vollnarkose eingerichtet und mit miniaturisierten Platten und Schrauben aus Titan fixiert. Zusätzlich kommen Schienungen oder Fixierverbände zum Einsatz. Fehlende oder zertrümmerte Knochenanteile können entweder durch Knochen aus andern Körperregionen oder durch Ersatzmaterialien wie Keramik, Kunststoff oder Titan ersetzt werden. In der Regel lässt sich ein einfacher Bruch mit unauffälligen Operationsnarben gut und fast folgenlos behandeln. Bei ausgedehnteren Brüchen und/oder Weichteilverletzungen kann es jedoch auch heute noch zu bleibenden Folgen wie eingeschränktem Sehen, Riechen oder Hören sowie Formabweichungen kommen, die für eine adäquate Korrektur mehr als eine Operation erfordern. Bei Zahnverletzungen oder -verlusten steht die Versorgung durch künstliche Zahnwurzeln im Sinn etwa von Titanschrauben-Implantaten mit aufmontierten Zahnkronen oder Brücken und Prothesen zur Verfügung. Auch kann der Zahnersatz durch herkömmliche Kronen und Brücken oder konventionelle Zahnprothesen erfolgen.

...bis Tumorerkrankungen
Neben gutartigen Tumoren, die oft ohne grossräumige Opferung des umliegenden Gewebes entfernt werden können, gehören die bösartigen Tumoren zu den Erkrankungen, die radikal entfernt werden müssen und rekonstruktive Massnahmen erfordern. Häufigste Krebsarten sind hier der Hautkrebs (Basaliom, Spinaliom oder Melanom) und der Schleimhautkrebs. Der Verlust von Anteilen des Gesichts oder der Mundhöhle führte früher dazu, dass die Betroffenen am sozialen Leben nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt teilnehmen konnten. Heute versucht man, wenn immer möglich, das Gesicht schonender und damit erhaltender zu operieren und die Operation durch zusätzliche Behandlungen wie Chemotherapie und Bestrahlung zu ergänzen. Wenn ein Erhalt der Gewebe oder die Rekonstruktion durch Umgebungsgewebe nicht möglich ist, kann die moderne rekonstruktive Chirurgie durch Übertragung von Gewebeanteilen aus andern Körperregionen (zum Beispiel Wadenbein, Beckenkamm oder Haut) die entfernten Gesichts- oder Mundhöhlenanteile sofort ersetzen; dies mithilfe von mikrochirurgischen Anschlusstechniken für Gefässe und Nerven. Computerunterstützte Chirurgie ermöglicht in vielen Fällen zusammen mit adäquater Behandlung, die Funktion und damit auch die Form zu erhalten oder zu rekonstruieren. Trotzdem gibt es Grenzen, die auch mit modernster Technik nicht überwunden werden können. Hier ergänzt die Gesichtsprothetik (die sogenannte Epithetik) mit unauffälligen, individuell gefertigten Prothesen das Repertoire.

Reduzierte Alterseffekte
Der Verlust der Form und die Einschränkung der Funktion wegen Alterung mit Hauterschlaffung und Knochenschwund sowie der Verlust von Zähnen sind weitere Faktoren, die häufig mit chirurgischer Unterstützung behandelt werden. Auch hier steht in erster Linie die Funktion im Vordergrund. Denn ein normal funktionierendes Gebiss verhindert den Schwund der knöchernen Gesichtsstruktur, und die Muskulatur bleibt erhalten. Im Bereich der Haut und des Unterhautgewebes lassen sich ebenfalls durch entsprechendes Reduzieren und chirurgisches Umverteilen von Volumina Alterungseffekte reduzieren. Auch hier ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Patienten psychisch ausgeglichen sind. Nicht jede Altersveränderung sollten die Chirurgen entfernen, die Patienten jedoch in ihrem verständlichen Wunsch nach guter Funktion und gutem, dem biologischen und gefühlten Alter entsprechendem Aussehen im Rahmen der chirurgisch vernünftigen Möglichkeiten professionell unterstützen.

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