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Universität Basel

Warum müssen wir schlafen?

Christian Cajochen

Schlaf ist global und bei allen Lebewesen nachweisbar. Er ist für das Wohlergehen und die Erholung des Menschen notwendig und bildet eine für das Leben unerlässliche Phase, indem er den physischen und sozialen Alltagsstress vergessen hilft.

Sich schlafen legen löst seelische und gefühlsmässige Belastungen und entspannt übermüdete Muskeln. Sich ins Bett legen und schlafen gleicht die Schwierigkeiten des Lebens wieder aus. Insgesamt verschlafen wir rund ein Drittel unseres Lebens – ein Drittel, an das wir uns nicht erinnern, ausser dass manchmal für eine Weile bruchstückhafte Traumfetzen hängen bleiben.

Ruhe- und Aktivitätsphasen findet man schon bei Bakterien und Insekten. Sogar Körperzellen «schlafen» und «wachen», da bestimmte Gene nur zu bestimmten Zeiten ein- und ausgeschaltet werden. So folgt unser Schlaf-Wach-Verhalten einer Rhythmizität, der das ganze Leben unterworfen ist.

Rhythmischer Gleichklang

Das Phänomen der spontanen Synchronisation ist in der Natur weit verbreitet. So schalten etwa Leuchtkäfer ihr Licht zeitgleich mit dem Einbruch der Abenddämmerung ein. Fliegen zwei Leuchtkäfer-Männlein nahe genug nebeneinander, synchronisieren sie ihr Glühen. Sie blinken quasi unisono, um den Paarungserfolg bei ihren weiblichen Geschlechtsgenossinnen zu verstärken.

Eindrücklich ist auch das Beispiel der spontanen Synchronisation von zwei Pendeluhren, die der Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens im 17. Jahrhundert als erster Mensch entdeckte: Stehen zwei Pendeluhren nebeneinander, verfallen die Pendel von einem parallelen Bewegungsmuster in einen Rhythmus, in dem sie sich gleichmässig zu- und auseinander bewegen. Ein Pendel verhält sich also wie das Spiegelbild des anderen.

Ähnlich verhält es sich auch mit unserem Schlaf-Wach- Rhythmus: Wir meinen zwar, dass wir ihn bewusst steuern, indem wir uns nachts schlafen legen und uns das morgendliche Aufwachen durch den gestellten Wecker erzwingen lassen. In Tat und Wahrheit findet aber eine spontane Synchronisation des Schlaf-Wach-Wechsels mit dem Licht-Dunkel oder dem Tag-Nacht-Wechsel statt. Statt eine halbe Stunde wie bei den Pendeluhren braucht es beim Menschen ungefähr das ganze erste Lebensjahr, bis diese Abstimmung ins Lot kommt. Manche schaffen es früher, manche später.

Die Abgleichung des Schlaf-Wach- mit dem Tag-Nacht-Wechsel geschieht nicht passiv, sondern wird von einem stecknadelgrossen Hirngebiet aktiv gesteuert. Die Uhr sitzt also im Kopf und gibt, ähnlich einem Herzschrittmacher, einen Takt vor – in diesem Fall einen 24-Stunden- Takt, der im Fachjargon «circadianer» Takt heisst (von lateinisch «circa diem», ungefähr ein Tag).

Diese Uhr steuert neben dem Schlaf praktisch alle rhythmischen Tag-Nacht- Phänomene in unserem Körper. So ist die Leber eine andere am Tag als in der Nacht (was für den Alkoholabbau im Blut wichtig ist). Herzschlag, Blutdruck und Körpertemperatur unterliegen dem Diktat der Hirnuhr. Viele Hormone wie zum Beispiel Melatonin oder Kortisol zeigen tagesrhythmische Schwankungen. Auch unser Befinden, die geistige Leistungsfähigkeit und unsere Stimmung pendeln im 24-Stunden-Takt.

Gesundheitsrisiko Schichtarbeit

Wir spüren diesen Einfluss jedoch nur, wenn wir ein «modernes» Leben führen, also etwa in ferne Länder fliegen (Jetlag) oder Schichtarbeit leisten müssen: Lebensweisen, die in unserer Gesellschaft immer häufiger vorkommen und deren Folgen für die Gesundheit des Menschen noch immer zu wenig Beachtung beigemessen werden.

Jetlag und Schichtarbeit haben immer eine «Desynchronisation» zwischen dem Tag-Nacht- und dem Schlaf-Wachwechsel zur Folge – der rhythmische Gleichklang ist massiv gestört. Schichtarbeitende leiden unter permanentem Jetlag, sind also Reisende, die niemals in der neuen Zeitzone ankommen. So ist bei ihnen der Schlaf als Erstes gestört. Umfragen haben gezeigt, dass über 70 Prozent der Schichtarbeitenden Schlafprobleme haben, und diese bestehen auch nach der Pensionierung fort.

Eine andauernde Störung der Synchronisation des circadianen Dirigenten mit dem Tag-Nacht-Wechsel führt auf lange Sicht neben Schlafstörungen zu zahlreichen anderen Beschwerden wie Herz-Kreislauf-Problemen, Tagesmüdigkeit, Übergewicht bis zu schweren Depressionen. Aus diesem Grund hat die WHO die Schichtarbeit als gesundheitsgefährdend und potenziell krebserregend eingestuft. Zumindest erkranken Flugpersonal und Schichtarbeitende häufiger an Krebs als Tagesarbeiter. Tierexperimente haben gezeigt, dass Mäuse, deren innere Uhr aus dem Tritt gebracht wird, schneller Tumore entwickeln und früher sterben als ihre Artgenossen, die nicht auf Schichtarbeit getrimmt wurden.

Wie es grosse und kleine, dicke und dünne, rothaarige und blonde Menschen gibt, gibt es auch Kurz- und Langschläfer, Früh- und Spätschläfer sowie Tief- und oberflächliche Schläfer. Jeder hat sein individuelles Schlafverhalten, das zum Teil über Generationen vererbt und auch kulturell weitergegeben wird. So wie wir die angeborene Haarfarbe künstlich wechseln können oder im Alter ergrauen, passen wir unser Schlafbedürfnis dem Arbeitsalltag an oder leiden vielleicht unter seniler Bettflucht. Mit anderen Worten: Wir können oder müssen unseren Schlaf-Wach-Rhythmus mit den sozial auferlegten Arbeitszeiten abstimmen.

Dazu werden wegen des frühen Schulanfangs in der Schweiz vor allem Jugendliche gezwungen, was aufgrund ihres meist späteren Chronotypus in der Pubertät von den meisten als sehr schwierig empfunden wird. Statt der Schulen sollten eher die Senioren-Unis früh beginnen, da sich das Hoch der geistigen Leistungsfähigkeit im Alter vermehrt in den Morgen verschiebt, während Jugendliche häufig am Abend zu ihrer Höchstform auflaufen.

In der Optimierung von Schul- und Arbeitszeiten gemäss der individuellen Circadianrhythmik steckt grosses Potenzial für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. So können für die Schichtplangestaltung die Faktoren Chronotypus und Schlaftypus eine grosse Rolle spielen, um den Schlaf der Mitarbeitenden möglichst erholsam und ihre Fehlerrate möglichst tief zu halten. Ein eindrückliches Beispiel ist die Anwendung der sogenannten «Chronotherapie», bei der Medikamente nach der individuellen Circadianrhythmik dosiert und «getimt» werden, was bei Krebspatienten zu signifikant höheren Überlebenschancen führt.

Nächtliche Symphonie

Seit der Entdeckung der Hirnstrommessung durch den Neurologen Hans Berger in den 1920er-Jahren ist klar, dass das Gehirn immerzu aktiv ist und in verschiedenen Rhythmen schwingt. Der berühmteste davon, benannt nach Berger, ist ein synchrones Schwingungsmuster der Hirnwellen, das sich sechs- bis neunmal pro Sekunde wiederholt und im Wachsein bei geschlossenen Augen eintritt. Dieses Muster verändert sich kontinuierlich vom Wachsein über das Einschlummern bis zum Tiefschlaf, und zwar von einem schnell getakteten, oberflächlichen Wachrhythmus zu einem langsamen und weit ausholenden Rhythmus im Tiefschlaf.

Im tiefsten Tiefschlaf sind die Hirnwellen extrem synchronisiert, wie bei einem Orchester, in dem alle Instrumente präzise den gleichen Takt spielen, ohne Gegentakt und mit maximaler Stärke. In diesem Stadium braucht es bei guten Tiefschläfern den Lärm eines startenden Flugzeugs, um sie wieder aus den Armen von Morpheus zu holen. Der Dirigent dieses Schlaforchesters sitzt in einem bestimmten Hirngebiet, das praktisch alle Spieler – also Hirngebiete – durch die nächtliche Schlafsymphonie führt. Der Vergleich mit einem Orchester ist gar nicht so abwegig, versuchten doch schon viele Komponisten, das nächtliche Schwingungsmuster der Hirnwellen in Musik zu verwandeln.

Wer sich von Berufs wegen mit Schlaf beschäftigt, findet es immer wieder faszinierend, das Hirnwellenmuster einer schlafenden Person zu beobachten: Spitzen, Täler und rasche Zacken ziehen wellenartig vom linken zum rechten Bildschirmrand des Computers, wie Hieroglyphen aus einer anderen Welt, die immer noch nicht entschlüsselt sind. So wissen wir nicht, warum wir pro Nacht vier bis sechs Zyklen durchschlafen, die immer mit einer Phase abgeschlossen werden, in der sich unsere Augen unter den geschlossenen Lidern wild bewegen, der sogenannten REM-Phase (rapid eye movement).

Auch wissen wir nicht, warum wir träumen und warum unsere Träume vor allem in der REM-Phase emotional und stark skurril gefärbt sein können. Was man auf jeden Fall weiss, ist, dass die verschiedenen Hirnwellenmuster während des Schlafs für die Verarbeitung von Gedächtnisinhalten vorangegangener Tage, das Festigen von Erlerntem, die Stärkung des Immunsystems, das Wachstum von neuen Zellen und vieles mehr sehr förderlich sind.

Sofern wir nicht jäh von einem Wecker aus dem Schlaf gerissen werden, sorgt die Hirnuhr dafür, dass wir nicht ewig schlafen. Etwa zwei bis drei Stunden vor dem eigentlichen Erwachen wird der Motor langsam angeworfen: Die Melatoninproduktion im Schlaf stoppt, die Körpertemperatur, die Herzfrequenz und der Kortisolspiegel steigen kontinuierlich an, damit uns das Aufwachen möglichst leicht fällt. Es scheint, als ob das Aufstehen bereits Stunden vor dem erwarteten Sonnenaufgang aktiv eingeleitet wird.

Übrigens vermeiden die Inuit ein plötzliches Aufstehen am Morgen, vor allem im tiefsten Polarwinter, wenn die Nächte ewig scheinen. Laut dem Ethnologen Jean Malaurie vergeht jeweils gut eine halbe Stunde, in der jeder auf seine Art seine Trägheit geniesst. Man erhebt sich niemals unvermittelt, denn die Inuit meinen, dass sich die Seele während des Schlafs entfernt und beim Wachwerden wieder in den Körper zurückkehren muss. Man darf folglich nie plötzlich aufstehen, will man vermeiden, dieses «Seelchengewimmel» zu stören. Ob dies mit dem sehr niedrigen Herzinfarktrisiko der Inuit zusammenhängt, bleibe dahingestellt. In unseren Breitengraden ist das Herzinfarktrisiko jedenfalls in den Morgenstunden um die Aufstehzeit am höchsten.

Grundbedürfnis Erholung

Warum müssen wir schlafen? Die Antwort ist einfach und heisst «Erholung». Immer wenn wir krank werden, eine Verletzung haben oder uns von einer stressvollen Situation erholen wollen, legen wir uns hin und versuchen zu schlafen. Hirnverletzte Menschen schlafen zunächst viel, und mit dem Grad der Erholung von der Verletzung erholt sich auch das Wachsein. Es scheint, als ob wir schlafen, um wach sein zu können. Es gibt Menschen, die ohne Nahrung auskommen, es gibt aber niemanden, der auf Schlaf verzichten kann. Der Weltrekord liegt bei elf Tagen ohne Schlaf. Schlaf ist ein Grundbedürfnis. Der Hunger nach Schlaf geht nie verloren, wogegen das Hungergefühl beim Essen nach zwei bis vier Tagen Fasten ausbleibt.

Wie der Tag-Nacht-Wechsel ist der Schlaf einer rhythmischen Schlaf-Wach-Abfolge unterworfen, die interessanterweise beide im Takt ticken; man nennt dies «aktive spontane Synchronisation». Trotz technischer Errungenschaften wie dem Flugzeug und dem künstlichen Licht, die uns den Schlaf und das Wachsein zu allen möglichen Tageszeiten ermöglichen, fällt es uns schwer, Schicht zu arbeiten oder mehrere Zeitzonen zu überwinden.

Das Diktat der inneren physiologischen Uhr ist so stark, dass sie sich durch «moderne» Hilfsmittel nicht einfach umprogrammieren lässt. Der Mensch und andere Lebewesen sind im Grund Uhren, die mit rhythmischen Abfolgen auf verschiedenen Ebenen – von den Genen bis zum Verhalten – auf unterschiedliche Umwelteinflüsse antworten. Eine der Antworten ist der Schlaf, der unbedingt respektiert und gepflegt werden sollte, damit wir einen Raubbau an der eigenen Gesundheit vermeiden. Laut einer Untersuchung in den USA betrugen übrigens die Kosten für Unfälle, die auf Schlafmangel zurückzuführen waren, bereits vor zwanzig Jahren 56 Milliarden Dollar.

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