Artikelinhalte
Die Basler Anatomie in der Frühen Neuzeit
Michael Stolberg
Im 15. und 16. Jahrhundert gewann die Anatomie an Europas Universitäten zunehmend an Bedeutung. Als eine der ersten Universitäten nördlich der Alpen lehrte Basel das Fach – und zog damit zahlreiche Medizinstudenten an.
Für die Entwicklung der frühneuzeitlichen Medizin und Naturwissenschaft ist die Anatomie von überragender Bedeutung. Zusammen mit der Botanik wertete sie die empirische Beobachtung zum vorherrschenden erkenntnistheoretischen Ideal auf. Dabei half sie, so manchen «Irrtum» der überlieferten, vielfach auf Tiersektionen gegründeten Anatomie zu korrigieren. Doch diese Korrekturen betrafen mit wenigen Ausnahmen Details: Das Wissen um die einzelnen anatomischen Strukturen des Menschen veränderte und differenzierte sich zunächst nur geringfügig. Für die medizinische Praxis war das neue Wissen zunächst wenig bedeutsam. Die zahlreichen inneren Krankheiten, mit denen sich die akademisch gebildeten Ärzte befassten, wurden vor allem auf krankhaft veränderte bewegliche Säfte und Dünste im Körper zurückgeführt, nicht auf Veränderungen der einzelnen Organe, Gewebe oder Zellen. Für die grobe Lokalisierung und gegebenenfalls gezielte Entleerung solcher Säfte und Dünste reichte ein ungefähres Wissen über die Lage der einzelnen Organe im menschlichen Körper völlig aus.
Selbstdarstellung der Ärzte
Die neue, auf persönliche «Autopsie» gestützte Anatomie zeigte jedoch die Möglichkeit und Notwendigkeit, die überkommenen Lehren der Autoritäten kritisch zu hinterfragen und zu korrigieren. Die Anatomie eröffnete für die Ärzte zudem ganz neue Möglichkeiten der professionellen Selbstdarstellung. Lange hatten sie ihren Anspruch, die geheimnisvollen Vorgänge im Körperinneren ihrer Patienten ergründen zu können, vor allem auf ihre Fähigkeiten in der sogenannten Harnschau gegründet, dem überragenden Diagnoseverfahren der mittelalterlichen Medizin. Doch hier waren sie zunehmend gegenüber den ungelernten Heilern ins Hintertreffen geraten. Die öffentlichkeitswirksame Inszenierung anatomischer Kenntnisse war dagegen weitgehend den studierten Ärzten vorbehalten. Die Anatomie an der Universität Basel steht stellvertretend für diese Entwicklungen und trieb sie ihrerseits voran. Die Anfänge im frühen 16. Jahrhundert ähneln jenen anderer medizinischer Fakultäten nördlich der Alpen. Die Anatomie spielte anfangs – wie die Medizin insgesamt – eine eher bescheidene Rolle. Lange war die Medizin nach der Gründung der Universität 1460 nur durch eine Professur vertreten. Doch fand 1531 eine der frühesten öffentlichen Anatomien nördlich der Alpen in Basel statt. Ein Jahr später forderten die neuen Statuten der Fakultät ausdrücklich regelmässige anatomische Demonstrationen und botanische Exkursionen. 1543 erschienen in Basel die «De humani corporis fabrica libri septem» von Andreas Vesal (1514–1564), dem Begründer der neuzeitlichen Anatomie. In dem opulent aufgemachten und illustrierten Werk zeigte der Autor anhand von zahlreichen eigenen Sektionen diverse frühere «Irrtümer» auf. Vesal wurde zur Ikone der neuen Anatomie. Er kam 1542 nach Basel und schrieb sich an der Universität ein. Es ist nicht sicher, ob er aktiv am universitären Leben teilnahm und Vorlesungen hielt, verbürgt ist aber, dass er im Mai 1543 die Leiche des hingerichteten Jacob Karrer aus dem Elsass sezierte und das präparierte Skelett der Universität schenkte. Dieses war hier lange aufgestellt und ist bis heute im Anatomischen Museum erhalten.
Das Skelett in der Stube
Entscheidend für den Aufstieg der Basler Medizinischen Fakultät seit den 1570er-Jahren waren zwei führende Anatomen: Felix Platter (1536–1614) und Caspar Bauhin (1560–1624). Sie hatten im Süden Europas studiert, wo sich schon seit Längerem das Bemühen um eine mehr empirische, auf persönliche Erfahrung gestützte Ausbildung durchgesetzt hatte, in der Anatomie wie auch am Krankenbett. Dies war damals Hauptmotiv für viele Medizinstudenten von nördlich der Alpen, zumindest einen Teil ihres Studiums an den grossen Universitäten des Südens zu absolvieren. So hatte Platter in Montpellier vielfach Gelegenheit, an Sektionen teilzunehmen, an offiziellen wie auch an verbotenen, die an heimlich ausgegrabenen Leichen vorgenommen wurden. Nach der Rückkehr nach Basel als 21-Jähriger betätigte er sich erfolgreich als Harnschauer und belegte so seine Fähigkeit, das Geschehen im Körperinneren zu entschlüsseln. Doch vor allem mit der Anatomie konnte er sich, wie zuvor Vesal, als Kenner des menschlichen Körpers auch öffentlich in Szene setzen. Als 1559 ein Dieb hingerichtet werden sollte, erwirkte er die Erlaubnis, die Leiche öffentlich zu sezieren. Sie wurde in die Elisabethenkirche gebracht, in der eine dreitägige öffentliche Sektion folgte, vor Ärzten, Chirurgen und, wie Platter schrieb, «vil volck». Nach der Sektion präparierte Platter das Skelett, das später jahrzehntelang in einem Kasten in seiner Stube stand, offenbar dort also, wo er auch Patienten, Angehörige und Boten empfing. Diese Selbstinszenierung verhalf dem jungen Arzt nach eigenen Worten zu grossem Ruhm. Weitere öffentliche Sektionen Platters sind später nur vereinzelt überliefert, doch führte er nach eigenen Angaben vor einem kleinen Kreis über 50 Sektionen durch. 1583 veröffentlichte er sein einziges anatomisches Überblickswerk, die «De corporis humani structura et usu libri III». Damit inszenierte er sich auch hier als Nachfolger Vesals. Platter veröffentlichte 1583 die älteste bekannte Abbildung eines weiblichen Skeletts, um die Unterschiede zum männlichen darzustellen. Manche davon waren bereits von älteren Autoren erwähnt worden, etwa das breitere weibliche Becken. Doch Platter fügte aus eigener Beobachtung weitere Unterschiede hinzu. So sei die vordere Verbindung der beiden Schambeinäste bei der Frau kürzer und mit einem dicken Knorpel gefüllt, der eine gewisse Dehnung erlaube, was die Geburt erleichtern sollte. Weiter schrieb er, die Rippen verknöcherten bei der Frau viel früher als beim Mann, um die Last der weiblichen Brüste tragen zu können. Viele der von Platter «entdeckten» Merkmale des weiblichen Skeletts halten heute einer empirischen Überprüfung nicht stand. Das damalige ärztliche Interesse an dessen besonderen Merkmalen und jenen der weiblichen Geschlechtsorgane ist jedoch bemerkenswert, in einer Zeit, in der die Frau vielen Gebildeten noch als eine minderwertige, unvollkommene Spielart des Mannes galt. Ein wesentliches Motiv dafür scheint die wachsende Erkenntnis der damaligen Ärzte gewesen zu sein, dass Frauen nicht nur als (potenzielle) Patientinnen, sondern auch durch ihre innerfamiliäre Torhüterfunktion in Gesundheitsdingen entscheidende Bedeutung für den Erfolg ihrer Praxen hatten. Wenn ihr Körper sich von dem des Mannes unterschied, waren auch besondere Kenntnisse für ihre Behandlung nötig, wie Platter sie auch mit entsprechenden Fallgeschichten unter Beweis stellte.
Fest institutionalisiert
Auch der Platter-Schüler Caspar Bauhin studierte im Ausland, so in Padua, wo er bei öffentlichen Sektionen zusah und selbst dabei mitwirkte. Nach seiner Rückkehr nach Basel übernahm er 1582 zunächst die Professur für Griechische Sprache, begann aber bald öffentliche Sektionen abzuhalten und führte einen anatomischen Demonstrationskurs durch. 1589 wurde ihm die neu geschaffene Professur für Anatomie und Botanik verliehen, und im selben Jahr richtete man im Unteren Collegium ein ständiges «anatomisches Theater» ein. Die Anatomie war damit in Basel fest institutionalisiert. Basel war eine der ersten Universitäten nördlich der Alpen, die einen umfassenden anatomischen Unterricht bot. Allerdings wurde er nicht immer regelmässig durchgeführt – ob wegen Bauhins ausgedehnter ärztlicher Praxis oder dem Mangel an Leichen, lässt sich nicht mehr entscheiden. Später verpflichtete man das Spital, jährlich ein bis zwei Leichen an die Anatomie abzugeben; im Gegenzug sollten die Professoren im Turnus das Spital kostenlos versorgen. Doch dies hatte nur begrenzten Erfolg, und Bauhin lehrte die Anatomie meist anhand von Tiersektionen. Als anatomischer Schriftsteller trat Bauhin sehr ausgedehnt in Erscheinung. Schon seine «Anatomica corporis virilis et muliebris historia» erlebte mehrere Auflagen. Am bekanntesten wurde er durch sein umfangreiches «Theatrum anatomicum» von 1605. Mit über 1300 Seiten, weit über 100 Abbildungen, zahllosen Belegstellen aus der älteren und jüngeren Literatur, einem ausführlichen Index und Erklärungstafeln bot es, in Albrecht Burckhardts Worten, «das erste handliche und doch vollständige Lehrbuch der Anatomie». Die Bedeutung der stark von Vesal beeinflussten Abbildungen für den Erfolg seines «Theatrum» steht in bemerkenswertem Kontrast zu den kritischen Äusserungen Bauhins über Vesal. Er wollte die Anatomie wieder verstärkt auf die antiken Autoritäten, allen voran auf den griechischen Arzt und Anatomen Galen, gründen. Diesen verdanke Vesal die meisten wahren Erkenntnisse, monierte Bauhin.
Neues Körperbild
Der Ruhm von Platter und Bauhin trug entscheidend zur Anziehungskraft der Basler Medizinischen Fakultät im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert bei. Später verlor sie ihre Führungsstellung, sicher auch bedingt durch die verheerenden Seuchenzüge und den Dreissigjährigen Krieg. Platters und Bauhins Einfluss wirkte allerdings noch lange weiter. Zwar hatten sie sich nur beschränkt durch anatomische Entdeckungen hervorgetan: Die Strukturen, die sie nach eigener Darstellung als Erste gefunden hatten, waren schon zuvor beschrieben worden oder hielten einer späteren Prüfung nicht stand. Aber sie gaben mit ihren Werken dem anatomischen Unterricht eine solide Grundlage. Bauhin spielte zudem eine Schlüsselrolle in der Vereinheitlichung der anatomischen Nomenklatur. Platter und Bauhin sahen wie andere zeitgenössische Forscher die Anatomie als einen Weg, die Weisheit und Vorsehung des Schöpfers am komplizierten und zielgerichteten Bau des menschlichen Körpers aufzuzeigen. Dieses Element spielt jedoch in ihren Werken eine vergleichsweise bescheidene Rolle. Die zentrale Bedeutung, die sie der Anatomie zuwiesen, lag woanders: Sie verknüpften die anatomischen Befunde systematisch mit der praktischen Medizin. Das neue anatomische Wissen hatte vorerst nur geringe Relevanz für die ärztliche Praxis am Krankenbett. Wenn ein Arzt einen scharfen, galligen Saft oder einen trüben, aus dem Bauchraum aufsteigenden Dampf als Ursache einer Krankheit ausgemacht hatte, genügte für die Behandlung die grobe Kenntnis der wichtigsten Organe und ihrer Lage. Platter und Bauhin erhoben anatomische Befunde nicht nur am gesunden Menschen, sondern gerade auch bei Kranken, und fanden immer wieder Veränderungen an Organen und festen Teilen. Platters Werk ist reich an Fällen, in denen er auch den pathologisch-anatomischen Befund post mortem beschreibt. Die Bedeutung dieser Verbindung von Anatomie, Pathologie und Klinik scheint auch Zeitgenossen bewusst gewesen zu sein. So erscheint Platter als erfolgreicher Praktiker, der etwa das ganze Spektrum der Frauenkrankheiten kannte und es auch verstand, die Ursache eines Leidens an der Leiche aufzuzeigen. Möglicherweise ist Bauhins nachdrückliches Bekenntnis zu Galen auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Als Grundlage für eine theoretisch ambitionierte ärztliche Praxis war dessen Werk noch immer ungleich wertvoller als jenes Vesals, der sich kaum mit all den Krankheiten und ihrer Behandlung befasst hatte, mit denen es die Ärzte täglich zu tun hatten. Nicht ihre Entdeckungen, sondern ihre erfolgreichen Bemühungen, die Anatomie für den gewöhnlichen praktischen Arzt zu vermitteln, bilden wohl das entscheidende Charakteristikum und das wirkmächtige Erbe der Basler Anatomie.