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Risiko, Markt und Repräsentation
Heinz Zimmermann
Das Management der wirtschaftlichen Risiken ist heute weit entwickelt – dabei weist es aus volkswirtschaftlicher Sicht mehrere Schwachpunkte auf.
Kaum je haben Banken, Versicherungen und Aufsichtsbehörde so grosse Anstrengungen zur Verbesserung des Risikomanagements unternommen, wurden die gescheitesten Leute beschäftigt und die teuersten Systeme entwickelt wie in den letzten 20 Jahren – und trotzdem kam es zur grössten Krise des Finanzsystems (die erst noch darin selbst begründet ist). Was ist schiefgelaufen? Sollte das Finanzsystem nicht vielmehr dazu beitragen, wirtschaftliche Risiken zu schmälern, als neue zu begründen? Diversifikation und Transfer von Risiken sind in der Tat zwei zentrale Funktionen des Finanzsystems; Banken und Versicherungen haben in den letzten Jahrzehnten eine nicht überschaubare Vielfalt von Anlage- und Finanzierungsinstrumenten entwickelt, um Risiken zu diversifizieren, zu zerlegen, neu zusammenzufügen und effizienter zu transferieren. Dieses «Risk Engineering» erfolgt einerseits über Instrumente, die an organisierten Kapitalmärkten gehandelt werden, und anderseits über ausserbörsliche oder gar individuelle Kontrakte und Finanzierungsinstrumente. Der Vorteil des Risikotransfers mit Kapitalmarktinstrumenten, die über eine zentrale Marktstruktur emittiert und gehandelt werden, ist vielschichtig: Es besteht Transparenz in den verwendeten Instrumenten und der Bewertung der zugrunde liegenden Risiken, und die Bonität der Gegenparteien ist in der Regel durch ein ausgeklügeltes System von Sicherheitszahlungen abgesichert. Das Abwicklungs- und Zahlungssystem ist standardisiert, wodurch die operationellen Risiken und Störungen begrenzt sind. Eine solche Marktstruktur vereinfacht die Koordination für das Angebot und die Nachfrage zur Übernahme von Risiken: Sich abzeichnende Ungleichgewichte sind in Form von Preissignalen für jedermann erkennbar und können frühzeitig zur Anpassung der Positionen genutzt werden. Die europäische Optionsund Futures-Börse Eurex, die unter anderem aus der schweizerischen Options- und Futures-Börse hervorgegangen ist, liefert ein Musterbeispiel für einen auch in Krisenzeiten funktionierenden Handel mit Risiken.
Heterogen und komplex
Das eben skizzierte Bild stimmt insofern zu optimistisch, als nur ein verhältnismässig kleiner Teil der Finanzrisiken über zentrale Marktplätze gehandelt wird. Der grosse Boom an den Finanzmärkten fand nämlich in den letzten 15 Jahren bei den ausserbörslichen Instrumenten statt, die von den Parteien direkt emittiert und gegenseitig gehandelt werden. Dabei tritt nicht nur das Gegenparteirisiko des Emittenten wegen der hohen Fremdfinanzierung als erheblicher und häufig verkannter Faktor auf (wie das Beispiel Lehman Brothers zeigt). Die Instrumente selbst sind in ihrer Ausgestaltung heterogen und komplex und verfügen über keinen Sekundärmarkt, der die aktuelle Bewertung der Risiken aufzeigt und als Informationsquelle genutzt werden könnte. Dabei handelt es sich um wirtschaftlich bedeutende Risiken: Zinsänderungs- und Kreditrisiken, Hypothekar- und Kreditkartenschulden – aber im Unterschied zu Aktien, Währungen, Anleihen oder börsengehandelten Derivaten erfolgt der Risikotransfer ausserhalb organisierter Marktprozesse. Eigentlich ist es höchst missverständlich, hier überhaupt von Finanzmärkten im Sinn von Institutionen mit zentralen Marktfunktionen zu sprechen. Was bedeutet dies für das Risikomanagement? Da es sich bei Risiken um abstrakte Gebilde – vorgestellte Chancen und Verluste – handelt, müssen sie auf eine geeignete Weise abgebildet werden, erfordern also eine bestimmte Repräsentation. Der Handel von Risiken auf Kapitalmärkten weist den grossen Vorteil auf, dass die Repräsentation in Form einfacher Messgrössen erfolgen kann: Meistens verwendet man statistische Masse, die aus dem Marktergebnis gewonnen werden können, um die Risiken zu beurteilen und zu «managen». Das Paradigma des funktionierenden Kapitalmarktes hat in den letzten Jahren nicht nur das Risikomanagement von Banken und Versicherungen geprägt, sondern in erheblichem Mass auch die aufsichtsrechtliche Diskussion. Marktpreise werden dabei als hinreichend informativ betrachtet, nicht nur, um Risiken zu messen und Risikoprämien zu bestimmen, sondern auch um damit Managementleistungen zu bewerten und risikogerecht zu entschädigen. Wie die jüngste Finanzkrise zeigt, verläuft dieser Marktprozess selbst dort, wo der Risikotransfer über organisierte Märkte erfolgt, nicht ohne Störungen: Viele typischerweise marktgängige Wertschriften und Risikopositionen bleiben illiquid – und zwar nicht nur kurzfristig, sondern über mehrere Monate hinweg. Dadurch ist die Informationsleistung des Finanzsystems stark beeinträchtigt, was für die Form, in der die Risiken repräsentiert werden (Modellierung, Messbarkeit, Bewertung) weit reichende Folgen hat und zu Rückkoppelungseffekten auf die zu repräsentierenden Risiken führt: Es verschwindet gewissermassen das Objekt, das zur Repräsentation des Risikos benötigt wird – aber eben nicht das Risiko selbst! Darin zeigt sich die Zirkularität des Risikobegriffs (das Risiko der Repräsentation): Auf illiquiden Märkte können keine Schwankungen der Marktpreise festgestellt werden – und das Risiko liegt im Fehlen messbarer Schwankungen. Durch welches statistische Mass soll dieses Risiko repräsentiert werden?
«Alles im Griff» …
Die Repräsentation des Risikos darf das zu präsentierende Objekt, das Risiko, nicht zum Verschwinden bringen. Gutes Risikomanagement erfordert eine Form der Repräsentation von Risiken, die nicht dazu verleitet, Gewissheit von Sicherheit zu vermitteln, sondern das Risiko der Repräsentation selbst zum Gegenstand hat und das abgebildete Objekt «am Leben» erhält. Ein System der Repräsentation, dem diese Qualität fehlt, ist ebenso wertlos und in seinem Nutzen eingeschränkt wie eine Sprache, der die Möglichkeit fehlt, sich über sich selbst zu verständigen (Heinz von Foerster). Darin liegt jedoch eine der Hauptgefahren, die mit der Bürokratisierung von Risikomanagementprozessen verbunden ist – das «sprachliche» Zeichensystem wird auf einfach messbare und steuerbare Grössen eingeschränkt. Und schliesslich will ein Chief Risk Officer einer Bank das Risikomanagement dafür nutzen, aufzuzeigen, dass er die Risiken im Griff hat – aber gerade darin besteht die oben erwähnte Zirkularität, gewissermassen das Risiko zweiter Ordnung. Die Analogie mit der Sprache ist auch in anderer Hinsicht aufschlussreich: So wie die Art und Weise, wie sich der Zeichenschatz einer Sprache dafür eignet (oder nicht eignet), über sich selbst zu kommunizieren, prägt das Vokabular des Risikomanagements nicht nur in passiver Weise die Wahrnehmung und Kommunikation von Risiken, sondern ist für das eigene Schicksal – also die Begründung der Risiken – unmittelbar verantwortlich. Ein treffendes Beispiel liefert die Sage von Odysseus, der sich dem Zyklopen Polyphem, der ihn in seiner Höhle gefangen hielt, listigerweise mit dem Namen «Niemand» vorstellte, was ihm bekanntlich das Leben rettete, nachdem er dem schlafenden Riesen einen Pfahl ins Auge gerammt hatte. Mit seinem Hilferuf «Niemand hat mich geblendet, Niemand hat versucht, mich zu ermorden» unterblieb die Hilfe der andern Zyklopen. Hätte Polyphem die Beschränktheit oder Interpretationsbedürftigkeit seines von Odysseus definierten Vokabulars erkannt und dies beim Hilferuf kommunizieren können (Effekt zweiter Ordnung), hätte sein Schicksal eine glücklichere Wendung genommen.
Die Börse, ein Spielcasino?
Die Repräsentation der Risiken der Finanzmärkte in der Sprache der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik war – historisch gesehen – keineswegs so naheliegend, wie es heute vielleicht erscheint. Die Zufälligkeit der Börse wurde stets irgendwo zwischen nichtsteuerbaren Naturgewalten (wie Ebbe und Flut oder einer Horde wilder Tiere) und einem Zufallsmechanismus von Menschenhand, einem Spielcasino höchsten wirtschaftlichen Rangs, angesiedelt. Dass die Zufälligkeit und die Risiken der Finanzmärkte als Ergebnis des kollektiven Verhaltens der Akteure und der spezifischen Restriktionen, die sich aus dem Marktmechanismus ergeben, abgebildet werden können, ist zwar keine Erkenntnis unserer Tage. Als erster dürfte dies Louis Bachelier 1900 mit der Feststellung erkannt haben, dass es an der Börse nur dann gleich viele Käufer wie Verkäufer gebe (Marktgleichgewicht), wenn die Börsenkurse in jedem Zeitpunkt mit gleicher Wahrscheinlichkeit steigen oder fallen (Zufallspfad der Kurse). Die Weiterentwicklungen dieses Modellansatzes in Bezug auf die Erwartungsbildung, das Herdenverhalten oder die strategische Interaktion der Akteure sind zahlreich – aber sie wurden leider kaum dafür genutzt, um systemisch relevante Aspekte des Risikomanagements wie etwa die vorher diskutierten Liquiditätsrisiken, die sich aus der Vermeidung und dem Versagen von Märkten beim Risikotransfer ergeben, adäquat zu repräsentieren. Dafür scheint ein ökonomisches Framework unerlässlich zu sein, das geeignet ist, Marktprozesse und ihre Störungen abzubilden. Die aktuelle Finanzkrise muss unter anderem als ein Problem der Repräsentation von Risiken durch die gängigen Risikomanagement- und Überwachungssysteme und der sich daraus ergebenden Informations- und Koordinationsprobleme verstanden werden. Der zirkuläre und selbstverstärkende Charakter von Systemen, die grösstenteils auf kapitalmarktfähigen, transparenten Risiken beruhen, findet in der eingeschränkten Liquidität des Finanzsystems den offensichtlichsten Niederschlag: Diese ist zugleich Ursache und Folge einer ungeeigneten Repräsentation vieler Risiken des Finanzsystems. Gute Risikomanagementsysteme sollten diese Zirkularität nicht verstärken, sondern in ihre Repräsentation mit einbeziehen.