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Universität Basel

Der spekulative Geist

Urs Stäheli

Spekulanten gelten als gierig und verantwor tungslos. Doch scheint gerade die Finanzkrise aus der Illusion entstanden zu sein, dass sich ohne Risiko spekulieren lässt.

Der Spekulant gehört zu den rätselhaftesten und umstrittensten Figuren der modernen Ökonomie. Als Neuankömmling, der noch bis ins 19. Jahrhundert ein Geldspieler war, musste er sich gegen etablierte Figuren durchsetzen: gegen den Arbeiter, der durch seine Arbeit neue Werte schafft; gegen das verantwortungsvolle unternehmerische Handeln; sogar gegen den geniessenden Konsumenten. Er wird häufig als verantwortungsloser Hasardeur kritisiert, der es auf die Reichtümer anderer abgesehen habe, nichts selbst schaffe und nicht einmal in der Lage sei, die erschlichenen Reichtümer wenigstens zu geniessen.

«Aus nichts alles»
Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es erste Versuche, im Spekulanten eine legitime ökonomische Figur zu sehen. Es mag überraschen, dass eine der ersten Schriften, die auf seine bedeutsame Funktion aufmerksam macht, von Pierre- Joseph Proudhon (1809–1865) stammt, dem sozialistischen Kämpfer gegen das Eigentum. Proudhon sieht im Spekulanten gar den Kern der modernen Ökonomie: «Es ist die Spekulation, die erfindet, die Neues schafft, die voraussieht, die entscheidet, die – dem unendlichen Geist ähnlich – aus nichts alles schafft.» Der Spekulant wird als das ökonomische Subjekt der Zukunft entworfen. Etymologisch ist er ein Späher, jemand, der sich ganz auf den Blick in die Zukunft konzentriert und künftige Gefahren schon jetzt erkennen möchte. Er ist nie konservativ, rechnet damit, dass alles auch anders werden könnte und lebt im Konjunktiv: Ihn interessiert nicht, was ist, sondern das, was sein könnte. Diese Konzeption des Spekulanten musste auf die Zeitgenossen provokativ wirken. Denn wenn man sich schon mit einem derart unsicheren Gewerbe wie der Zukunftsschau beschäftigt, sollte man doch wenigstens an einer guten Zukunft interessiert sein. Doch dem wahren Spekulanten ist es egal, ob er mit künftigen Ernterekorden, Energieengpässen, Kriegen oder der Entdeckung neuer Kolonien rechnet: Alles kann zur Chance werden. Die Zukunft des Spekulanten ist nicht jene des Historikers und des Geschichtenerzählers: Er leitet sie nicht aus der Vergangenheit ab. In dem heute noch aktuellen Ratgeber von Philip Carret «The Art of Speculation» (erstmals 1930 und zahlreiche Neuauflagen) wird der Spekulant auf seine Vergangenheitslosigkeit eingeschworen: Wenn er sein Portfolio bewertet, soll er vergessen, was er sich erhofft hat, als er seine Aktien kaufte, sondern es so tun, als ob er die Wertpapiere gerade jetzt erworben hätte. Nur so erreicht er einen von der Vergangenheit ungetrübten Blick. Selbst seine Spekulationsmethoden und -modelle sind keine Konstanten, denn auch sie bedürfen der ständigen Anpassung.

Spuren der Zukunft
Am deutlichsten wird diese Haltung in der Investmentschule des sogenannten Contrarismus am Anfang des 20. Jahrhunderts, die von einem einfachen Grundsatz lebt: Die Mehrheit irrt immer; handle gegen die herrschende Meinung, dann wirst du erfolgreich sein. Anders als der Fundamentalanalytiker, der sich für die «realen» Daten interessiert, und der Chartreader, der historische Entwicklungen extrapolieren möchte, ist der Contrarier der Gegenwart verhaftet. Indem er ausschliesslich die laufenden Börsenkurse und Verkaufsvolumina analysiert, versucht er, in der Gegenwart Spuren der Zukunft zu entdecken. Typisch dafür ist der Tickerbandleser, der früher auf dem Papierband, heute auf dem digitalen Tickerband gegenwärtiges Handeln analysiert – und alles andere vergisst. Dabei beobachtet er das gegenwärtige Verhalten anderer Spekulanten und versucht, von ihnen zu profitieren. Makroökonomisch wird denn auch gerade die Generierung von Zukunftswissen des Spekulanten im 20. Jahrhundert hervorgehoben: Seine Leistung besteht darin, unzählig viele Zukunftsvisionen hervorzubringen. Auch wenn der Spekulant auf die Stützen der Geschichte verzichten muss, so ist er dennoch kein blosser Hasardeur, der unkontrolliert auf die Zukunft wettet. Schaut man sich seine Genealogie an, wird deutlich, dass gerade der Umgang mit der Zukunft zahlreiche Disziplinierungs- und Regulationsbemühungen freigesetzt hat. Der Spekulant muss zwar «spekulative Fantasie» entwickeln, sich also von dem, was ist, absetzen und seine Fiktionen entwerfen. Dies hat ihm den Ruf eingebracht, sich nicht mit Wirklichkeiten zu beschäftigen, Agent einer bloss virtuellen, fiktiven oder papiernen Ökonomie zu sein. Damit ist seine Tätigkeit aber schlecht verstanden, schafft er doch diese Fiktionen in höchst wirklichen Tätigkeiten; mehr noch, muss er – anders als der Literat – seine Fiktionen täglich dem Test des Markts aussetzen.

Selbstkontrolle
Die Geschichte der Spekulation im 20. Jahrhundert ist auch eine Geschichte unterschiedlicher Selbstkontrolltechniken, die dem Spekulanten helfen sollen, in seinen Zukünften nicht verloren zu gehen und, vor allem, sie sich nicht von andern vorschreiben zu lassen. In den 1920er-Jahren wurde empfohlen, sich an hektischen Markttagen oder während Paniken an einen abgelegenen Ort in den Bergen zurückzuziehen, um in Einsamkeit eigenständige Entscheidungen zu treffen. Der Spekulant soll sich zudem ständig skrupulöser Selbstbeobachtung unterwerfen, um immer wieder zu überprüfen, dass er vom Geist der Masse noch nicht angesteckt ist. Zur Beobachtung der Märkte wurden inzwischen komplexe mathematische Verfahren entwickelt, Wahrscheinlichkeitsprofile erstellt und spieltheoretische Simulationen von Marktverhalten geschaffen. Dabei ruhen aber all diese Kalkulationsverfahren auf einem Moment der Nichtberechenbarkeit. Nicht zuletzt deshalb wird immer wieder hervorgehoben, dass der Spekulant über eine Fähigkeit verfügen muss, die sich mathematisch nicht bestimmen lässt: eine Intuition für den Markt, ein Wissen darüber, dass alle Berechnungen fehlschlagen könnten. Im Spekulanten überlagern sich unsere Vorstellungen von ökonomischer Rationalität und Irrationalität. Würde es vollständig effiziente Märkte geben, gäbe es ihn nicht. Der Spekulant lebt von ökonomischer Irrationalität, versucht, sie zu rationalisieren, und bleibt letztlich doch auf die Intuition angewiesen. Diese widersprüchliche Figur ist auch für eine Analyse der gegenwärtigen Finanzkrise bedeutsam. Inzwischen stimmen viele Kommentatoren darin überein, dass die Krise nicht zuletzt durch die Geldpolitik der US-Notenbank geschaffen wurde: Zu risikolos und zu einfach wurde die Aufnahme von Krediten, sei es für Banken, Financiers oder Hausbesitzer. Man könnte fast sagen, dass die Krise durch das Ersticken des spekulativen Geistes entstanden ist. Indem der irrationale Abgrund, das Unerwartete, verdrängt wurde, entstand die Illusion, ohne spekulativen Geist spekulieren zu können. Die Diskussion über die Lehren aus der Finanzkrise leidet gerade am Unverständnis über die widersprüchliche Figur des Spekulanten. Dieses Unverständnis schafft unwahrscheinliche Allianzen: Sozialdemokraten und Mainstream-Ökonomen scheinen trotz aller Differenzen darin übereinzukommen, dass ökonomische Rationalität erreichbar sein könnte: sei es durch den Homo oeconomicus als rational kalkulierendes Wesen, sei es durch eine politische Herbeiführung ökonomischer Rationalität. Beides setzt aber gerade jenen Verdrängungsmechanismus fort, der in die Krise geführt hat: das Verkennen, dass sich im Spekulanten Irrationalität und Rationalität nicht zufällig kreuzen, sondern notwendigerweise – und dass die Konstruktion von Rationalitäts- und Sicherheitsutopien eine Zukunftsvision ist, die sich nur für die Short-Spekulation eignet.

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